Kapitel 29

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Wie erstarrt blickte ich Lucas entgegen. Er hatte mich verraten, mich öffentlich zum Tode verurteilt. In mir focht ich einen Kampf aus - ein Teil von mir wollte ihn anspucken und ihn zu Brei verprügeln, und der andere Teil sah den kleinen Jungen, meinen kleinen Bruder.
Hinter Lucas traten drei weitere Menschen hervor, allesamt Männer und nur wenig älter als er.
Ich nahm nur am Rande Notiz davon, wie Gladion, Dante und Drake sich unwillkürlich gerader hinstellten und in für Feuerfinger typischer Arroganz das Kinn hoben.
Ihre Gegenüber waren schließlich nur Menschen, nichts wovor sich diese unbesiegbaren Feuerkämpfer - Trottel fürchten mussten.
Mein kleiner Bruder überragte mich inzwischen um fast zehn Zentimeter, sein blondes Haar wirkte schmutzig, und  die Gesichtszüge waren erwachsener, immerhin würde Lucas bald achtzehn Jahre alt werden.
Alles in allem sah er aus wie eine Kopie unseres toten Vaters - ein ziemlich unauffälliger Durchschnittstyp, der leicht in der Masse unterging.
Unser Vater hatte das stets zu seinem Vorteil genutzt; bei Lucas hatte ich eher das Gefühl, dass es ihn störte.
Vor allem im Kontrast zu Dante, dem bestaussehendsten männlichen Wesen weit und breit.
"Lucas Rowinth", sprach Dante meinen Bruder kühl an; "Ich bin Prinz Dante, der dritte Sohn von König Keltis, Herrscher über das Feuerreich."
Der Flammenprinz hielt sein markantes Kinn erhoben und seine gesamte Haltung strahlte etwas Majestätisches aus, das Lucas schlichtweg fehlte.
Selbst Gladion, der wie eine blasse, muskulöse Statue neben Dante stand, schien erhabener.
Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb Lucas die Feuerfinger ignorierte und mich mit seinem Blick durchbohrte.
"Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr Jenna gefangen haltet?" Seine Frage war vielmehr eine Feststellung.
Ich hielt den Mund und erwiderte bloß stumm seinen Blick, bemüht, meine verworrenen Emotionen zu ordnen.
"Die Piratin?", griff Dante die Frage auf; "Oh ja, sie ist in unser Gebiet eingedrungen und hätte fast eine unserer Soldaten ertränkt. Da verstehst du sicher, dass wir sie nicht frei herumlaufen und unsere Leute töten lassen."
Der herablassende Ton, in dem Dante mit Lucas redete, schien ihn deutlich zu verärgern.
Doch wenigstens ließ mein Bruder nun von mir ab und taxierte den Flammenprinzen eindringlich.
"Natürlich.", meinte er und seine Stimme triefte vor falscher Freundlichkeit; "Wir werden jedoch ebenso gut auf sie aufpassen können, wenn ihr sie uns übergebt."
Ich konnte mir ein Schnauben nicht verkneifen, ebensowenig wie einen bissigen Kommentar.
"Klar, sie belügt und hintergeht dich und du rennst ihr trotzdem noch hinterher.", griff ich Lucas an.
Gladion und Dante warfen mir gleichzeitig warnende Blicke zu.
Lucas lachte nur.
"Pass auf, Schwester, deine Meister ziehen dich gleich an der Leine zurück, an die sie ihr kleines Haustier gefesselt haben.", spottete er.
Ich funkelte ihn zornentbrannt an.
"Ich bin ganz sicher nicht ihr Haustier!", rief ich aus; "Und was maßt du dir überhaupt an, über mich zu urteilen? Du bist eine widerliche Kreatur, die seine Schwester, mich, ohne mit der Wimper zu zucken getötet hätte, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben!"
Meine Wut, all die angestaute Verletztheit und Enttäuschung brachen in diesem Moment ihre Bahn und strömten in meine anklagenden Worte mit ein.
So lange wollte ich Lucas diese Sätze an den Kopf werfen, und jetzt war endlich die Zeit gekommen, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Finster stierte mein Bruder mich an.
"Dass ich nicht lache!", fauchte er; "Du bist diejenige, die mich verraten hat! Du hast mich mein ganzes Leben lang im Stich gelassen! Wo warst du, als Vater mich grün und blau geprügelt hat? Als er mich anbrüllte, dass ich schwach sei? Als er mich wieder und wieder gedemütigt und in den Dreck gestoßen hat? Wo warst du, große Schwester?"
Ich konnte nicht antworten.
Meine Zunge lag mir schwer und unnütz im Mund und mein Hals war so trocken, dass ich vermutlich ohnehin nur ein Krächzen herausbekommen hätte.
Lucas' Blick, der Blick des kleinen wehrlosen Jungen mit den großen Augen, schnitt tief in mein Herz.
Ich wusste, ich hatte ihm gegenüber versagt. Als Schwester.
Und er hatte mir gegenüber versagt.
Mein Herz war schwer und ich sah es wieder glasklar vor mir.
Lucas war sechs, ich sieben: Vater schrie ihn an, dass er ein Mann sein musste und schlug ihm ins Gesicht. Ich hatte nichts gesagt.
Ein paar Jahre später: Lucas schlich sich mit lauter blauen Flecken und einem zugeschwollenen Auge in sein Zimmer, das neben meinem lag. Ich hatte weggesehen.
Eine Woche später: Lucas weinte sich nebenan in den Schlaf. Ich hatte mir die Ohren zugehalten.
Die Tränen brannten in meinen Augen und ich wollte weinen um unsere kaputte Bezeihung zueinander, doch ich zwang mich, die Tränen zurückzudrängen.
Es war weder die passende Zeit noch der passende Ort.
Überraschend spürte ich Gladions Hand, die kurz und warm die meine striff und mir ein Stückchen Stärke schenkte.
Ich hob nicht den Blick, aber ich wusste, dass seine eisblauen Augen klar und tief auf mich herab, bis tief in mein Inneres, schauten.
Dante räusperte sich.
"Das ist nicht der Grund für dieses Treffen.", wandte der Prinz ein, dem das Ganze ein wenig unangenehm zu sein schien; "Es geht um den Krieg. Und die Frage, auf welcher Seite die Menschen stehen."
Da Lucas' Gefolgsleute merkten, dass mein Bruder sich erst noch von der vorigen Aussprache erholen mussten, antwortete ein großer Mann Mitte zwanzig mit kahl geschorenem Kopf.
"Die Menschen sind gespalten.", sagte er offen heraus; "Viele sind wütend wegen der Geschehnisse in Fost. Die meisten haben schlichtweg Angst. Wir haben in etwa vierhundert Menschen zusammengetrommelt, die hinter Rowinth stehen und ihm vertrauen. Da er selbst seine eigene Schwester ausgeliefert hat, glauben sie an seine bedingungslose Loyalität unserer Spezies gegenüber."
Lucas straffte die Schultern und verhielt sich so, als hätte er sich wieder gefangen.
Er übernahm das Wort.
"Wir glauben fest an noch mehr Unterstützung.", fuhr er fort; "Die Menschen wollen ihre Unabhängigkeit. Sie wollen Freiheit und Sicherheit und meine Gesandten ziehen in den Städten und Dörfern umher, um sie zu vereinen. In einer Rebellion gegen die Schatten."
Freiheit und Sicherheit?, wunderte ich mich insgeheim; Nicht Frieden?
Hatten die Menschen nicht genug von den Kämpfen und den Toten?
Mir schoss durch den Kopf, was die alte Frau gesagt hatte, in deren Hütte ich in einer Nacht vor Wochen geschlafen und mit der ich Grießbrei gelöffelt hatte:
Kein Krieg ist es wert, für ihn zu sterben.
Oh bei allen Göttern, wie recht sie hatte.
Ich erschauderte und fragte mich, ob die drei Brüder der Dunkelheit uns zuhörten und ob sie sich über die Provleme und Pläne der Sterblichen lustig machten.
"Die Übereinkunft, die wir vorschlagen, ist ganz simpel.", fasste Lucas zusammen, ganz auf Dante fixiert und darauf bedacht, meinem Blick nicht zu begegnen; "Wir schließen uns euch im Kampf gegen die Schatten an. Dafür kriegen wir unser Reich zurück. Wir sind gleichberechtigte Partner, keiner dominiert den anderen."
Gladion lachte höhnisch auf.
"Leicht zu sagen, wenn man nur vierhundert Leute hat und der Partner mehrere Tausend.", merkte er an.
Dante bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu schweigen, was der weißblonde Feuerfinger mit zusammengebissenen Zähnen befolgte.
"Ich werde mich mit meinem Vater beraten.", erklärte der dunkelhaarige Flammenprinz ernst; "Ob sich das Risiko lohnt. Denn ob ihr vertrauenswürdig seid, das kann mir keiner versichern."
Das Blickduell zwischen Dante und meinem Bruder war unbarmherzig und kalt; es war klar, dass diese beiden in absehbarer Zeit keine Freunde werden würden.
"Und was die Piratin angeht", ergänzte der Prinz noch zusätzlich; "Sie ist unsere Gefangene und wir werden mit ihr auf unsere Art verfahren. Darüber gibt es keine Verhandlungen."
Auch das gefiel Lucas nicht, aber was sollte er schon dagegen einwenden?
Überraschenderweise fiel sein Blick wieder auf mich und er runzelte die Stirn.
"Katharina, da ist noch jemand, der dich gerne sehen würde."
Verwirrt legte ich den Kopf schief und öffnete gerade den Mund, um zu fragen, was bei den Göttern er damit meinte, da erschien hinter seinen drei Gefolgsmännern eine Gestalt.
Mir klappte die Kinnlade herunter.
Eine Frau um die fünfzig mit braunblondem mit silbrigen Strähnen durchzogenem Haar trat in den Vordergrund.
Ihre grünblauen Augen und das spitze Kinn waren so verstörend vertraut - und zwar aus dem Spiegel.
Sie lächelte nicht und ihre Haut war faltiger, als ich sie in Erinnerung hatte, doch es bestand kein Zweifel.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund.
"Mutter", hauchte ich.
Sie lächelte noch immer nicht, zeigte nicht das winzigste bisschen Zuneigung.
"Katharina", entgegnete sie bloß emotionslos.
Meine Augen flogen für eine Sekunde zu Lucas.
Machte er das absichtlich? Hatte er mich durch so viel persönliche Einflüsse in diesem Treffen aus der Bahn werfen wollen?
Und ging es hier überhaupt noch um die Allianz zwischen Menschen und Feuerfingern oder nicht viel mehr um private Anliegen wie Jenna, unsere Kindheit und jetzt als Höhepunkt die Präsentation unserer jahrelang verschollenen Mutter?
Was spielte mein Bruder hier?
Oder ...
Ein erschütternder Verdacht bemächtigte sich meiner.
War Lucas vielleicht gar nicht der Anführer dieser Truppe, sondern steckte meine Mutter in Wahrheit hinter alldem?
Immerhin war er erst siebzehn, ein wütender Junge und sie eine erwachsene Frau, die in den Jahren was weiß ich was getrieben hatte.
Wut bemächtigte sich meiner und ich blitzte meine Mutter düster an, was sie gleichgültig erwiderte.
Was war los mit ihr? Wo war die liebende, sanfte Mutter, die mich gebadet und mir vorgelesen hatte?
Und am allerwichtigsten: Weshalb war sie gesund und munter hier, während Lucas und ich nach ihrem Verschwinden durch die Hölle gegangen waren?
"Gabriela Rowinth", stellte meine Mutter sich vor und sah nun Dante fest in die Augen; "Sie sind ein selbstsicherer junger Mann, Flammenprinz. Aber geben Sie gut acht. Vorsicht ist nie fehl am Platz."
Gladion und ich tauschten einen verwirrten Blick aus.
Just in diesem Augenblick wurden die Schatten in den Ecken des Tempels lebendig.
Und sie stürzten sich mit gebleckten Zähnen und scharfen Krallen auf uns.


Blazing - Feuriges BandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt