Das Lager, welches meiner Mutter unterstand, war in meinen Augen kaum mehr als eine Ansammlung von Holzhütten.
Vermutlich lag das daran, dass ich die letzten Wochen in einem richtigen, seit Jahrzehnten ausgebauten Lager verbracht hatte und es gewohnt war, auf die Schwelende Stadt, die riesige Hauptstadt der Feuerfinger, zu blicken, jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster sah.
Dennoch konnte ich mich nicht des Gefühls entwehren, dass meine Mutter sich eine Papierstadt aufbaute, nutzlos und mit Papiersoldaten zur Verteidigung, die bei jedem kleinen Angriff mit Feuer in hell Flammen aufgehen würden.
Zum einen grinste ich hämisch, zum anderen zog sich mein Magen zusammen.
Das waren doch im Grunde auch meine Leute, Menschen, die sich gegen die Schatten auflehnen wollten.
Doch konnten sie tatsächlich die Leute meiner Mutter und gleichzeitig meine Leute sein?
Abschätzig warf ich einen Blick zu ihr herüber, die von drei Männern unterschiedlichen Alters umringt war und allem Anschein nach am Diskutieren war.
Für mich waren vier junge Kerle und eine verbissen aussehende Frau abgestellt worden, die mich irgendwie an Jenna erinnerte.
Obwohl die Frau mich wie die andren grob anfasste und jede meiner Bewegungen scharf überwachte, war sie mir als einzige ein wenig sympathisch.
Sie rief mir die störrische Wasserbändigerin ins Gedächtnis, die in einer grauen Zelle verdörrte und der ich versprochen hatte, sie zu retten.
Es war verwunderlich, wie der langjährige Hass zwischen Jenna und mir so schnell in Solidarität umgeschlagen war. Allerdings hatte sich auch viel verändert, seit wir in Fost gelebt hatten, sie als Freundin meines Bruders und ich als neidisches Mädchen ohne Kontrolle über das Monster in ihrem Inneren.
Mein Blick schweifte über das Hüttenlager. Acht oder neun Kämpfer mit Schwertern bewachten den Eingang, zwischen den Holzhütten schleiften Männer ihre Klingen, Teenager schleppten Holz und Baumaterial, Frauen wuschen die Wäsche, besserten den improvisierten Schutzwall aus und Kinder jagten sich jauchzend durch das Lager.
Ich würde die Anzahl der Bewohner zwischen zweihundertfünfzig und vierhundert schätzen. Viele waren jung, die meisten waren schmutzig und auf ihre Arbeit konzentriert, doch allesamt wirkten sie entschlossen.
Ich entdeckte einen alten Mann, der auf einem Stein saß und Suppe aus einer Schale löffelte, während zwei Mädchen in meinem Alter mit einem Pferd vor ihm standen und aufgeregt auf ihn einredeten.
Ich stellte mir Hana, die ausgestoßene Stockfrau hier vor, doch ich wusste, dass sie glücklicher war, wenn sie in ihrem Heim abseits der anderen ihre letzten Tage verbringen konnte.
Irgendwie vermisste ich sie.
Ein Stoß in meinen Rücken riss mich aus den Grübeleien.
"He!", fauchte ich und hätte gerne die Krallen ausgefahren und meinen mürrischen Wachhunden eine Lektion erteilt.
Falsch, ich hatte gar keine Krallen. Der Gedanke musste von dem Schatten auf mich übergesprungen sein.
Verwirrt blinzelte ich und machte einen Schritt nach vorne, wo meine Mutter sich schon mit einem ungeduldigen Gesichtsausdruck zu mir umgedreht hatte.
"Katharina", tadelte sie mich kalt; "Benimm dich."
Es klang fast wie damals, wenn sie mich für mein Temperament schalt oder weil ich Lucas an den Haaren gezogen hatte.
Ihr Tonfall verlieh dem Ganzen jedoch eine völlig neue Note und die hellen Augen offenbarten dunkle Gefühle, die sie mir gegenüber noch nie so heftig empfunden hatte.
Oder vielleicht hatte sie sie nur gut versteckt.
Mit Schaudern dachte ich daran zurück, wie sie mich erbarmungslos ins Wasser gedrückt hatte, als Lucas und ich badeten und wie ich geglaubt hatte, ertrinken zu müssen.
Wahrscheinlich bereute sie es jetzt, mich nicht länger unter Wasser gedrückt zu haben, sodass mein Atem versiegt war.
Was soll's, morgen war ich sowieso tot. Zumindest, wenn es nach ihr ginge.
Meine ungehobelten Wachen brachten mich und meine Mutter zu meiner Überraschung nicht in eine der Holzhütten, sondern eskortierten uns in den hinteren Teil des Lagers, wo es nicht mehr geschäftig zuging.
Hier im abgelegenen Abschnitt des Lagers des Widerstands gegen die Schatten stapelten sich Holz und Steine, höchstwahrscheinlich als Lagerstätte der Siedlung.
Die Holz- und Steinstapel reichten teilsweise bis über meinen Kopf und variierten von sorgfältigen Aufstapelungen bis zu unordentlichen Haufen.
Meine Mutter bedeutete ihren Kämpfern überraschend, uns alleine zu lassen.
Ohne Widerworte zogen sie ab wie die gehorsamen Soldaten, die sie waren.
Ich schnaubte.
Gladion war auch so einer, ein Soldat mit blindem Gehorsam. Nur Drake, dachte ich mit Bedauern; Er hatte mein Freund sein wollen, mein Verbündeter. Und ich hatte ihn abgewiesen.
"Was willst du von mir?", fuhr ich meine Mutter gereizt an; "Du lässt mich doch morgen sowieso hinrichten. Lass mir wenigstens diesen letzten Tag ohne deine Gegenwart!"
Sie zuckte nicht mit der Wimper.
Es ärgerte mich, wie ähnlich ihr Gesicht meinem bis auf die Falten um den Mund und die Augen waren.
"Ich werde es schnell und schmerzlos machen lassen.", sagte meine Mutter beherrscht; "Wenn du dich entschuldigst."
Frustriert warf ich die Hände in die Luft. Entschuldigen? Wofür?
Dass ich nicht die Tochter war, die sie sich gewünscht hatte?
Dass mein Vater lieber seine Zeit mir als ihr gewidmet hatte?
Dass sie ihren geliebten Sohn verloren hatte und nur noch mich hatte?
Das letzte traf wohl den Nagel auf den Kopf.
"Dein Bruder", klärte sie mich auf; "Dein wertvoller, kleiner, süßer Bruder. Die Schatten haben ihn verschleppt und vermutlich getötet - und das ist deine Schuld!"
"ES WAR DEINE SCHULD!", schrie ich so laut ich konnte; "Du hast die Schatten geholt und sie haben sich Lucas geschnappt! DU! Du bist schuld!"
Sie schüttelte den Kopf, das verblendete Miststück.
"Ich habe sie wegen dir geholt! Weil du den Schattenprinz in deiner Seele aufgenommen hast. Sie sollten sich dich schnappen und die Feuerfinger töten, das ist alles!", widersprach meine Mutter; "Du hast sie dazu gebracht, Lucas zu verschleppen! Du und das Biest in deinem Körper habt die Schatten dazu gebracht, mir meinen kleinen Jungen zu nehmen!"
"Das ist doch völlig abwegig!", protestierte ich; "Du suchst nur einen Sündenbock, um die Schuld abzuschieben und das bin ich - wie immer!"
Egal, was ich gesagt hätte, ich hätte meine Mutter nie überzeugen können. Ich war bei ihr unten durch gewesen, wahrscheinlich schon vom Tag meiner Geburt an.
Sähe ich nicht so aus wie sie, würde ich anzweifeln, ob sie überhaupt meine Mutter war.
Sie war vollkommen in Rage und eine Art roter Ausschlag kroch von ihrem Hals auf die Wangen, weil sie sich so sehr aufregte.
"Selbst der qualvollste Tod ist noch zu gut für dich!", spie sie; "Du bist das Schlimmste, was mir je untergekommen ist!"
"Ich bin hier nicht das Monster!", wehrte ich mich; "Du bist das pure Böse und wenn ich ein schlechter Mensch bin, dann nur, weil du mich dazu gemacht hast! Du und all die anderen!"
"Genau, Katharina!", spuckte meine Mutter; "Gib schön den anderen die Schuld und spiel das Unschuldslamm, das konntest du immer am besten!"
"Das konntest du immer am besten!", korrigierte ich sie.
Ein roter Nebel breitete sich in meinem Gehirn aus; ich fühlte nur noch meinen Herzschlag und den ungezähmten Hass - meinen eigenen und den des Schattens vermischt zu einer gewaltigen Macht.
Was nun geschah, verschmolz in meinem Kopf zu einem unklaren Bild, einer vagen Erinnerung, doch ich weiß noch, wie ich vorwärts stürmte und im nächsten Moment lag meine Mutter inmitten von Holz und Steinen und die aufgetürmten Berge des Baumaterials stürzten auf sie an.
Ohne einen Muskel zu bewegen, sah ich dabei zu, wie meine Mutter, meine verhasste Mutter, unter Mengen von Holz und Stein begraben wurde.
Ihr Schrei brach abrupt ab und das Krachen war ohrenbetäubend, als dicke Holzstämme und Steinbrocken die Knochen unter sich zermalmten.
Ich zuckte nicht und beobachte das schwere Holz und das raue Gestein - das Grab meiner Mutter.
Es fühlte sich surreal an, als wäre nicht ich es, die dort stand und zusah, wie ihre Mutter von Baumaterial verschüttet wurde.
Sie war tot.
Das realisierte ich erst wenige Sekunden später, als Schritte sich näherten, angelockt von dem Lärm der eingestürzten Aufstapelungen, und Gebrüll mein Ohr erreichte.
Ich drehte mich um, mit um mein Gesicht wehendem Haar und dem Gefühl, als würde ich in Flammen stehen.
Die ersten Menschen, die sich mir näherten, wehrte ich ab wie nervige Fliegen - die Wut und der Schatten entfesselten in mir eine unnormale Schnelligkeit und Stärke.
Es war einfach, gegen die Kämpfer meiner Mutter anzutreten und ich kämpfte, drehte mich und schlug zu wie in einem Rausch.
In dieser Zeit war ich kein Mensch mehr, nein ich war eine Schlange, ein Schatten, präzise und brutal, ganz wie ich es mir in meinen düstersten Fantasien ausgemalt hatte.
Blut, Schweiß und Geschrei ließen mich kalt, die Leben um mich herum zählten nicht.
Gefühllos schleuderte ich Menschen zu Boden, nahm einem Kämpfer ein Schwert ab und ließ die anderen dadurch bluten.
Es war wie eine Sekunde und gleichzeitig wie eine halbe Ewigkeit, als schließlich keiner mehr aufstehen konnte, um mich aufzuhalten.
Das Blut auf mir registrierte ich kaum und stieg ungerührt über den Körper eines schwach hustenden Mannes, der sich krümmte und blutete wie ein Schwein.
Es war mir egal.
Ich ging weiter, watete fast durch das Blut, mit hoch erhobenem Kopf und leuchtenden Augen.
Dann hielt ich plötzlich inne.
Vor mir stand ein Kind.
Ein junges Mädchen mit dunklen Zöpfen und großen braunen Augen, die mich anschauten wie ein verschrecktes Reh.
Sie sah aus wie Liliane, wie meine verlorene Freundin.
Es verschlug mir den Atem, wie sie bloß dastand und mich anstarrte.
Ich konnte mich nicht bewegen und als das kleine Mädchen, kaum älter als fünf Jahre, mein bluttriefendes Schwert furchtsam ansah, verspürte ich so etwas wie Scham.
Ihr Blick flog zurück zu meinen Augen und irgendetwas in ihren großen, angsterfüllten Augen ließ mich auf die Knie sinken.
"Liliane?", fragte ich mit einem Kratzen im Hals.
Das kleine Mädchen starrte nur und der Schock in ihrem unschuldigen Gesicht traf mich, ging durch den Wall der Gefühllosigkeit wie ein Messer bis tief in mein Herz.
Tränen traten mir in die Augen, dumme heiße Tränen.
Ich streckte die blutverschmierte Hand nach dem ängstlichen Mädchen aus, das wie angewurzelt vor mir stand, so schutzlos, und auf das Massaker hinter mir sah.
Ihre Augen, ihre nun tränenverschleierten Augen, waren das Letzte was ich sah, bevor ich durch einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf bewusstlos wurde.
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Blazing - Feuriges Band
FantasyFeuer. Liebe. Schicksal. In einer Welt von Feuerbändigern, Schatten, Drachen und Geheimnissen versucht eine bis in die Seele gezeichnete Kämpferin, ihren Weg ins Licht zu finden. ~ Meine Lippen waren rissig, das Haar fettig und die Augen rot. Und w...