H a r p e r

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Ich hatte mir den gesamten Sonntag den Kopf über Sullivan zerbrochen. Wie es dazu hatte kommen können, dass seine Hand so entstellt war und warum er sie offensichtlich nicht behandeln ließ. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen taten sich vor mir auf. Sully wurde allmählich zu einem Mysterium und ich fragte mich wie all das hinter der strahlenden Person stecken konnte, die sich am Anfang so vehement an meine Fersen gehaftet hatte. Er war mir die ganze Zeit über wie eine Frohnatur rübergekommen, doch langsam begann ich daran zu zweifeln.

Ich rückte meine Tasche zurecht und wich einer Person aus, die mir entgegen kam.

Das Schlimme an all dem war eigentlich, dass ich mir deswegen ein wenig Sorgen um Sullivan machte. Denn auch wenn ich es nicht gedacht hätte, er war mir irgendwie ans Herz gewachsen. Zwar nur ein kleines Stück, aber das reichte offenbar, um mir den Kopf über ihn zu zerbrechen.

Ich seufzte und strich mir meine Haare hinters Ohr, als ich um die Ecke bog und einer weiteren Person ausweichen musste. Verärgert zog ich meine Augenbrauen zusammen. Ich hasste dieses kleine ‚Spiel'. Es war immer ein Machtkampf, wer zuerst zucken würde und aus dem Weg ging, damit man mit der anderen Person nicht aneinander krachte. Mit meiner zierlichen Statur zog ich leider nicht selten den Kürzeren. Vor allem jetzt, wo jeder zu seiner nächsten Stunde hetzte. Keine Ahnung wer die Pausen zwischen den Stunden so kurz gemacht hatte. Es konnte keine blühende Intelligenz dahinter gesteckt haben.

Der Flur hatte sich inzwischen beachtlich geleert und auch mein Raum war nur noch eine Ecke weiter, doch statt mich dorthin zu bewegen, rammten sich meine Füße mit einem Mal in den Boden. Mein Blick hatte sich auf eine Person an den Spinden geheftet, die verzweifelt versuchte mit einer ungelenken Bewegung ihre Tasche zurück auf den Rücken zu fördern, während sie in der linken Hand einen Packen Bücher hielt und mit dem rechten Ellenbogen den Spind zu schließen versuchte. Ein amüsanter Anblick von Sullivan. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo der Spind wieder aufsprang und ein Haufen an Blättern hinunter segelte. Sully stieß ein genervtes Stöhnen aus, ließ die Tasche zu Boden sinken und knallte die Bücher auf den Boden. Dann versuchte er einhändig die Blätter aufzusammeln und sie zurück in den Spind zu stopfen.

Ich hatte Mitleid.

Mit wenigen Schritten war ich bei ihm. Aber da hatte er den Spind bereits mit einem lauten Knall zu geschlagen, sich Rucksack und Bücher wieder geschnappt und sich zu mir gedrehte, sodass er nun volle Kanne in mich rein lief.

Ich stieß einen undefinierbaren Laut aus und taumelte einige Schritte zurück. Woah. Für seine geringe Größe hatte der Kerl aber ordentlich Wucht drauf.

»Oh, kacke! Tut mir leid«, hörte ich ihn sofort sagen. Er griff nach meinem Oberarm, damit ich nicht noch mehr das Gleichgewicht verlor. Ich hob meinen Kopf, schob mir meine Haare aus dem Blickfeld und sah Sullivan geradewegs in die Augen.

»Harper.« Das Erstaunen in seiner Stimme war nicht zu übersehen. Ebenso wenig die Tatsache, dass sich sein Gesicht wie auf Knopfdruck aufhellte. Die grimmigen, verärgerten Züge verschwanden und wichen einem strahlendem Lächeln.

Ich war perplex.

Und es half auch nicht gerade, dass seine Hand von meinem Arm zurückschnellte, als hätte er sich gerade an einer heißen Kartoffel verbrannt.

Ich räusperte mich. »Haben die Blätter dir irgendwas getan?«, hörte ich mich sagen und hätte mir im nächsten Moment am liebsten vor die Stirn geschlagen. Haben die Blätter dir irgendwas getan? Wirklich, Harper? Wer sagte schon so einen Bullshit.

Als ich Sullivans Verwirrung erblickte, hätte ich mich am liebsten geköpft. Ich war mehr als sozial unbeholfen. Nicht einmal eine normale Konservation konnte ich führen.

Greatest PretendersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt