H a r p e r

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Am nächsten Tag begegnete ich Sullivan nicht. Nicht auf dem Flur und auch nicht in der Mensa. Umso gelangweilter war ich von dem Stoff, den wir im Unterricht durchgingen. Weder die englische Literatur aus dem sechzehnten Jahrhunderts, noch Mrs. Lance kritische Meinung zu unseren Zeichnungen konnte mich in irgendeiner Weise begeistern.

Desto erleichterter war ich, als ich nachmittags nach Hause fahren konnte, um mich in aller Seelenruhe in mein Bett zu pflanzen und zum gefühlt hundertsten Mal den Iron Man Comic durchzublättern. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass mir Quentin so etwas Kostbares einfach geschenkt hatte.

Seufzend verstaute ich ihn wieder an seinem rechtmäßigem Platz im Regal und lief hinüber zu meinem Schreibtisch, um mich auf den Stuhl plumpsen zu lassen. Ich griff nach Stift und Block und begann zu zeichnen.

So sehr ich es liebte durch Comichefte zu blättern und in diese andere Welt einzutauchen, es ging nichts darüber selbst solche Welten zu erschaffen. Seine eigenen Charaktere zu schaffen und alles um sich herum zu vergessen. Ich liebte es, denn wenn ich zeichnete, vergaß ich alles. Ich ignorierte die Welt da draußen und fokussierte mich allein auf meinen Bleistift und den Charakter, den er zeichnete.

Und wie jedes Mal schob sich ein seliges Lächeln auf meine Lippen.

Ich saß den gesamten Nachmittag am Schreibtisch – selbst als die Dunkelheit schon längst heimgekehrt war. Erst als sich stechende Schmerzen in meinem Nacken bemerkbar machten, erwachte ich aus meiner Trance und legte den Bleistift beiseite.

Ich konnte keine Sekunde länger still sitzen. Gähnend dehnte ich meinen Nacken, wiegte meinen Kopf ein paar Mal hin und her und erhob mich dann von meinem Stuhl. Meine Glieder waren von dem stillen Sitzen völlig eingefroren und das hieß für mich, dass ich dringend einen heißen Tee brauchte.

Ich verließ mein Zimmer, lief die Treppe nach unten und endete in der Küche, wo ich den Wasserkocher anschmiss. Während ich darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde, vernahm ich den Fernseher aus dem Wohnzimmer. Ich musste lächeln. Wie oft war Dad schon vor dem Fernseher eingeschlafen, sodass ich nicht selten bei meinen Mitternachtssnacks den Fernseher hatte ausschalten müssen.

Um Dad nicht zu stören, goss ich mir das Wasser in die mit einem Teebeutel versehene Tasse und sah zu, dass ich so leise wie möglich wieder nach oben lief. Meinem Vorhaben wurde jedoch ein gewaltiger Strich durch die Rechnung gemacht, als ich durch den Flur zur Treppe lief.

»Harper!« Ich stutzte, als ich Dads Stimme hörte. Es schwang irgendetwas Ernstes in ihr mit. Er wollte mit mir reden und dafür musste ich ihm nicht einmal ins Gesicht sehen.

Seufzend verfestigte den Griff um meine Tasse und steuerte aufs Wohnzimmer zu. Dad saß auf dem Sofa, neben ihm lag Buttons und träumte friedlich vor sich hin.

»Können wir reden?«, fragte Dad und blickte mir dabei mit einem Blick entgegen, der eigentlich kein ›Nein‹ dudelte. Mir wurde mulmig.

Ohne ein Wort zu sagen ließ ich mich neben ihm nieder. Ich verschränkte meine Beine zum Schneidersitz und umfasste die Tasse mit beiden Händen.

»Willst du mir verraten was letzten Dienstag los war?«

Ich schluckte. Ich hatte gewusst, dass er darauf zurückkommen würde.

»Dad«, seufzte ich und richtete meinen Blick auf ihn. Ich wusste, dass er es nur gut meinte, doch über dieses Thema wollte ich nun wirklich nicht reden.

»Ich hab dir eine Woche Zeit gelassen, damit du auf mich zukommen kannst, doch–«

»Dad«, fiel ich ihm ins Wort und hoffte ihm damit irgendwie verständlich zu machen, dass ich dieses Gespräch nicht führen wollte.

»Harper?«, entgegnete er jedoch nur und blickte mich mit seinen tiefbraunen Augen abwartend an. Er wusste, dass ich keine Chance hatte. Ich würde um diese Unterhaltung nicht drum herum kommen.

»Sullivan ist nur ein Freund« begann ich und wandte meinen Blick von Dad ab. Stattdessen richtete ich ihn auf die Tasse Tee, die nach wie vor in meinem Schoß ruhte.

»Du hast ihm zugeschaut. In der Eishalle«

Wieder schluckte ich. Ich konnte seinen eindringlichen Blick auf mir spüren.

»Das ist keine große Sache«, erklärte ich ihm und wusste dabei selbst, wie dämlich ich klang, wie albern diese Worte waren. Denn Dad und ich wussten gut genug, dass es sehr wohl eine große Sache war.

»Keine große Sache?«, hakte Dad entgeistert nach. Als ich einen vorsichtigen Blick zu ihm hinüber wagte, waren seine Augen so groß wie Tennisbälle. »Harper, darf ich dich daran erinnern, dass–«

»Dad!«, unterbrach ich ihn und zog verärgert meine Augenbrauen zusammen. Warum konnte er nicht einfach akzeptieren, dass ich darüber nicht reden wollte.

Ich atmete einmal tief durch und blickte Dad dann richtig an. In seinem Gesicht war pure Verblüffung vorzufinden. Ich konnte es ihm nicht verübeln, ich wurde ihm gegenüber selten laut.

»Mir ging's gut dabei. Wirklich«, sagte ich nun mit ruhiger Stimme und versuchte in meinen Blick alle Ehrlichkeit hineinzulegen, damit Dad mir glaubte. Dabei war es nicht einmal gelogen. Ich hatte mich beim Spiel tatsächlich gut gefühlt. Auch wenn mein Puls hin und wieder in die Höhe geschossen war, hatte ich den Tag ohne Panikattacke überlebt.

»Ich will nur nicht, dass du etwas Dummes tust«, seufzte Dad und jetzt konnte ich die Besorgnis in seinem Blick sehen. Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Dad litt.

»Ich kann den Dingen aber auch nicht ewig aus dem Weg gehen.« Ich schlug meine Augen nieder und spielte mit dem Henkel meiner Tasse. Die Vermeidungstaktik hatte ich meiner Meinung nach schon viel zu lange genutzt.

Dad seufzte. »Das will ich ja auch nicht.« Er fuhr sich durch seine Haare und tat mir dabei noch mehr leid. »Ich weiß nur, wie schwer das Jahr danach war und ich will nicht, dass du dahin zurückkehrst.« Zögernd bewegte ich meinen Kopf zu einem Nicken. Das konnte ich verstehen.

Ich hob meinen Blick, richtete ihn zurück auf Dad und schenkte ihm ein sanftes Lächeln. Er wollte das Beste für mich und dafür konnte ich ihn nicht verurteilen.

Greatest PretendersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt