H a r p e r

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Über den eigenen Schatten zu springen war wie in ein tiefes, dunkles Loch zu springen. Man fiel und fiel und kniff nur noch die Augen zusammen bis es vorbei war. Man sah den Boden nicht und konnte nur hoffen, dass es nicht zu wehtat. Dass es vielleicht ein Netz gab, etwas Weiches, was einen vor dem schmerzhaften Aufprall bewahrte.

Es wäre wohl lebensmüde zu springen, obwohl man wusste, dass dort nichts auf einen wartete, das einen auffing. Dass man aufprallte und sich dabei alles brechen würde.

Ich schloss die Augen und versuchte tief durchzuatmen. Ich wusste, dass ich mir irgendeine Ausrede einfallen musste, um heute nicht mit Sullivan Schlittschuhfahren zu müssen. Doch egal was ich auch in mein Handy tippte, es hört sich absolut lächerlich an.

Mir entfuhr ein Seufzen, ehe ich meine Augen wieder öffnete und meinen Blick zurück auf das Handy in meiner linken Hand richtete. Es war dumm gewesen, ihm zuzusagen. Ich hätte von vornherein klar machen müssen, dass ich nie wieder einen Fuß auf eine Eisfläche setzen werde. Doch das hatte ich nicht und dafür verfluchte ich mich selbst.

Ich nahm wieder meinen Daumennagel zwischen die Zähne und nagte unruhig auf ihm herum.

Schon seit über einer Stunde saß ich im Schneidersitz auf meinem Bett und versuchte die richtigen Worte für meine Nachricht zu finden.

Unsicher scrollte ich zum Anfang der Nachricht und las sie mir zum gefühlt tausendsten Mal durch.

»Hey, ich muss leider für heute absagen. Hab über Nacht eine Erkältung bekommen und will mich heute lieber ausruhen. Wäre doof, wenn ich nächste Woche krank bin während der Prüfungen.

Harper«

Im nächsten Moment hatte ich schon auf Sendengeklickt. Entgeistert riss ich die Augen auf und starrte unentwegt auf das Display. Scheiße.Er wird wissen, dass es eine Ausrede war. Er wird es wissen. Definitiv. Es war dumm. Er durchschaut das. Er–

Mein Handy vibrierte und augenblicklich erschien Sullivans Antwort vor meinen Augen.

»Okay, schade aber ich kann's verstehen. Wünsch dir gute Besserung!

Sully«

Ich musste schlucken. Denn auch wenn er die Lüge offenbar geschluckt hatte, baute sich ein unangenehmes Zwicken in meinem Brustkorb auf. Es stach und zauberte mir binnen weniger Sekunden ein schlechtes Gewissen.

Ich seufzte, ließ mich nach hinten fallen und schloss meine Augen. Es fühlte sich scheiße an, ihn zu belügen.

Die Tage darauf waren grauenhaft. Mich plagte das schlechte Gewissen, weswegen ich Sullivan mit allen Mitteln zu meiden versuchte. Ich vermied Besuche in der Mensa und hielt sie, wenn sie doch nötig waren, immer so kurz wie möglich. Ich bekam jedes Mal einen halben Herzinfarkt, wenn ich Sullivan irgendwo auf dem Flur entdeckte und verkroch mich in irgendeine Ecke, in der er mich nicht finden konnte. Einmal war ich so überfordert mit der Situation, dass ich ohne Rücksicht auf Verluste kehrtmachte und mich durch die Schülermassen kämpfte, während er mir verständnislos hinter blickte und vermutlich die Welt nicht mehr verstand.

Allerdings hätte ich mir bereits im Vorhinein denken können, dass dieser Plan nicht ewig hielt. Um genau zu sein, funktionierte er zwei glanzvolle Tage, bevor er krachend in sich zusammenfiel.

Es hatte gerade geschellt, mein Kunstkurs war beendet und ich hatte nichts weiter im Kopf, als so schnell wie möglich aus diesem Raum und in die Mensa zu kommen, um mir wenigstens noch ein trockenes Brötchen zu ergattern, bevor ich meine Pause wieder draußen auf den Stufen verbrachte.

Voller Eile sammelte ich meine Sachen zusammen, stopfte sie in meine Tasche und war bereits mit wenigen Schritten halb zur Tür raus, als ich ungebremst mit jemandem zusammenstieß. Mir entfuhr ein leiser Fluch, während ich mir meine Haare zurückstrich und aufblickte, um mich bei der Person zu entschuldigen. Aber statt in das Gesicht eines mir unbekannten Schülers zu blicken, begegnete ich Sullys erstauntem Blick. Ach, du grüne Neune.

Greatest PretendersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt