H a r p e r

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Ich habe mir schon tausende Mal den Kopf darüber zerbrochen, wie es heutzutage immer noch Menschen geben konnte, die der Musik einfach nichts abgewinnen konnten. Schließlich wurdest du überall damit überschüttet. Im Radio, im Fernsehen, in der Schule, bei völlig alltäglichen Gesprächen oder wenn man jemand Neues kennenlernte. Überall war Musik ein Thema und damit so gut wie unausweichlich.

Und doch gab es noch immer Menschen, die bei diesem Thema nur die Schultern zuckten. Die sagten, dass sie nicht viel Musik hörten oder nur das, was im Radio lief. Für mich war so was unvorstellbar, denn ich hörte so gut wie immer Musik. In jeder freien Minute. Abends, wenn ich einschlief. Morgens, wenn ich aufwachte. Auf dem Weg zur Schule, während der Pausen in der Schule, nach der Schule und und und... Es gab nur wenige Stunden am Tag, wo ich wirklich auf Musik verzichtete – meistens unfreiwillig.

Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen bewegte ich mich durchs Zimmer, stark bemüht mich dem Rhythmus des Lieds anzupassen, das durch die Kopfhörer in meine Ohren drang. Meine Bewegungen glichen wohl aber eher denen eines Epileptikers.

Während ich lautstark Another one bites the dust mitschmetterte, griff ich nach meiner Jacke, vollführte eine weniger elegante Drehung und warf mir meine Tasche über die Schulter.

An jedem anderen Tag hätte ich mich vermutlich mit einem Lied von ABBA beschallt, aber heute nicht.

Ich schnappte mir noch meine Mütze, stopfte mir mein Handy in die hintere Hosentasche und verließ mein Zimmer. Beschwingt vom Rhythmus der Musik hüpfte ich die Treppe hinunter, schmiss meine Tasche auf einen der Stühle in der Küche und machte mir Müsli fürs Frühstück. Ich setzte mich an den Tisch, aß die Schüssel Müsli und genoss die Musik in meinen Ohren. Mein Kopf wippte von ganz alleine zum Beat und das Lächeln auf meinen Lippen wurde von Minute zu Minute größer. Bis zu dem Moment, in dem mir mit einem Mal mein linker Kopfhörer aus dem Ohr gerissen wurde. Verdattert und irgendwie auch halb verärgert, wandte ich meinen Blick zur Seite und begegnete prompt den Augen von Dad. Sie blitzten schelmisch auf und ehe ich mich versah, hatte er sich den Kopfhörer bereits an Ohr gehalten und bretterte den Songtext zwar stumm, aber dafür in voller Leidenschaft mit.

Ich konnte nicht anders, als meinen Kopf in den Nacken zu werfen, schallend loszulachen und Dad damit meinen Kopfhörer aus der Hand zu reißen.

Wenn eins feststand, dann, dass ich die Liebe zu Queen definitiv von Dad geerbt hatte.

»Mensch, jetzt hast du mir meinen epischen Auftritt versaut«, meinte Dad gespielt wütend und wandte sich mit einer trotzigen Miene auf dem Gesicht von mir ab. Mir entfuhr ein weiteres Glucksen. »Tut mir wirklich leid«, entgegnete ich und versuchte mit aller Mühe mein Lachen zu unterdrücken.

Ich gab ein letztes leises Kichern von mir, bevor ich wieder stumm den Kopf schüttelte und einen kurzen Blick zu Dad hinüber warf. Er hatte seine Teetasse gerade in die Spüle gestellt, als er sich wieder zu mir umdrehte.

»Soll ich dich wieder mitnehme?«, fragte er und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Theke.

»Sehr gerne«, erwiderte ich und schob mir den letzten Löffel in den Mund. Auf meine Worte hin nickte er und streckte die Hand nach meiner leeren Schüssel aus. Ich lächelte ihm dankend zu, erhob mich von meinem Platz und gab Dad die Schüssel. Während er sie ausspülte und in die Spülmaschine stellte, verließ ich die Küche, flitzte nach oben, putzte mir die Zähne und war kurz darauf wieder unten, um in meine warmen Stiefel zu schlüpfen. Ich wollte mich gerade an Dad wenden und ihm sagen, dass wir los konnten, als ich erkannte, dass Dad gar nicht mehr in der Küche und die Haustür nur leicht angelehnt war. Hastig warf ich mir meine Jacke über, zog mir die Mütze über den Kopf und griff nach meiner Tasche.

»Buttons!«

Kaum war meine Stimme verklungen, hörte ich bereits klackernde Hundepfoten und sein klimperndes Halsband. Keine drei Sekunden später stand Buttons schwanzwedelnd vor mir. Ich deutete ihm mit einem kurzen Kopfnicken an, nach draußen zu verschwinden. Er schlüpfte durch den Türspalt, bevor auch ich nach draußen in die Kälte trat und die Haustür hinter mir zuzog.

Und heilige Scheiße war es kalt. Die eisige Luft war geradezu beißend und erweckte in mir augenblicklich den Wunsch eine weitere Jacke überzuwerfen.

Dieser Gedanke verschwand jedoch, sobald ich Dad mit einem Eiskratzer am Auto erblickte und mein Herz von Mitleid geflutet wurde. Ich lief schnell zu ihm hinüber, öffnete die Beifahrertür, klappte das Handschuhfach auf und schnappte mir den zweiten Kratzer, um die Dad dabei zu helfen die Scheiben frei zu kratzen.

Fünf Minuten später waren wir zwar fertig und konnten losfahren, dafür waren meine Finger nun Eisklötze, die bei jeder winzigen Bewegung fürchterlich wehtaten. Warum hatte ich gleich noch mal meine Handschuhe Zuhause gelassen?

Als wir eine Viertelstunde später an der Schule ankamen, verabschiedete ich mich von Dad und Buttons und sprang aus dem Wagen, um so schnell wie möglich ins Gebäude zu eilen. Den eisigen Temperaturen wollte ich nicht länger als nötig ausgesetzt sein.

Auch wenn ich es irgendwie gehofft hatte, lief ich Sullivan an diesem Tag nicht einmal über den Weg. Doch ich versuchte meine Stimmung davon nicht herunterziehen zu lassen. Dann hatte ich Sully eben nicht gesehen. Und? Was machte das schon groß.

Meine Gedanken wurden ohnehin in eine andere Richtung gelenkt, als ich nach Hause kam. Ich war kaum über die Schwelle der Haustür getreten, als mir bereits der wundervolle Geruch von Speckwürfeln und Sahnesoße in die Nase stieß.

Spagetti Carbonara.

Moms Lieblingsgericht.

Und sofort stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ich schloss die Haustür, schlüpfte aus Jacke und Schuhe und betrat die Küche. Mein Blick fiel auf Dad, der summend vor dem Herd stand und die Nudeln in der Pfanne hin und her schob. Mein Herz erwärmte sich bei diesem Anblick.

Dad hatte immer dafür gesorgt, dass er an den Tagen, die ihn am meisten an Mom erinnerten, kein Trübsaal blies. Er genoss diese Tage, machte sie zu etwas Besonderem und ließ mich spüren, dass es auch für mich keinen Grund gab traurig zu sein. Mom war tot. Ja, so war es und so würde es auch immer bleiben. Das hieß allerdings nicht, dass wir deswegen durchgehend betrübt sein mussten.

»Hey, Dad«, begrüßte ich ihn und machte mich damit bemerkbar. Augenblicklich fuhr er zu mir herum. Seine Augen blitzten auf und ein großes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Hunger?«, fragte er und hielt die bis zum Rand gefüllte Pfanne in die Luft. Mit einem heftigen Nicken bejahte ich seine Frage und beinahe in der gleichen Sekunde begann mein Magen voller Vorfreude zu knurren.

Lachend stellte Dad die Pfanne auf einem Topflappen auf dem Tisch ab und deutete mir an mich zu setzen. Ich kam seiner unausgesprochenen Aufforderung nach und ließ mich mit einem tiefen Seufzen auf einen der Stühle nieder.

Und wie immer schmeckte das Essen vorzüglich. Dad hatte schon immer die Leidenschaft zu Kochen besessen und daher immer die faszinierendsten Gerichte gezaubert. Mal mehr und mal weniger gut, aber immer war er mit Herzen dabei gewesen.

Nach dem Essen half ich Dad beim Aufräumen in der Küche und erzählte ihm dabei ein wenig von meinem unspektakulären Schultag. Danach schlüpften wir beide in Jacke und Schuhe und fuhren mit Dads Truck weiter Stadtauswärts bis wir letztendlich auf einem kleinen Hügel zum Stehen kamen.

Und unweigerlich legte sich eine unbeschreibliche Schwere auf meine Brust.

Meine Augen wanderten aus der Windschutzscheibe, glitten über den eisernen Torbogen vor uns und über die Buchstaben, die darauf geschrieben standen.

Friedhof.

Greatest PretendersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt