S u l l i v a n

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Unruhig fuhr ich mir durch die Haare, bevor ich all meinen Mut zusammennahm und auf den Klingelknopf drückte. Meine Handflächen war schwitzig und mein Kopf pochte unangenehm.

Ich hatte tagelang mit mir gerungen, mir die ganze Woche den Kopf zerbrochen und stand nun doch endlich vor Harpers Haus und wartete darauf, dass mir die Tür geöffnet wurde. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was das am Dienstag gewesen war, doch es zerbrach mir beinah das Herz, wenn ich daran zurückdachte. In der einen Sekunde hatte sie noch meine Handgelenke umklammert und in der nächsten war sie aufs Eis gefallen, hatte nach Luft geschnappt und die Augen zusammengekniffen. Ich hatte unzählige Male ihren Namen gesagt, doch nicht ein einziges Mal hatte sie reagiert. Sie war völlig panisch gewesen und letztendlich Hals über Kopf vom Eis gehastet und aus der Halle verschwunden.

Und ich? Ich, Trottel, hatte nur dagestanden und ihr geschockt hinterher geschaut.

Inzwischen hatten wir Freitagnachmittag und ich hatte sie seit dem Versuch ihr das Schlittschuhfahren beizubringen nicht mehr wiedergesehen. Ich hatte die letzten beiden Tage darauf gehofft, sie in der Schule zu treffen und sie fragen zu können, was los gewesen war. Aber sie war nie dagewesen.

Ich fuhr mir ein letztes Mal durch die Haare, als sich die Tür mit einem Mal öffnete und Harpers Dad erschien. Er schien nicht einen Funken überrascht zu sein. Meine Nervosität stieg.

»Hallo, Mr. Dewey«, begrüßte ich ihn und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln, während ich ihm meine Hand entgegenstreckte. Doch er winkte nur ab. »Ich hab gedacht, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du mich Dalton nennen kannst«, meinte er und packte mich an der Schulter, um mich ins Haus zu schieben. Verdattert ließ ich es über mich geschehen.

»Sicher... Dalton«, erwiderte ich und blinzelte ein paar Mal. Harpers Dad schloss die Tür hinter uns.

»Du bist mit Sicherheit wegen Harper hier, oder?«

Zögerlich nickte ich. Ich hatte keine Ahnung, wie viel er davon wusste, was am Dienstag passiert war. Vielleicht weniger als ich. Vielleicht aber auch mehr.

»Na, dann zieh deine Schuhe aus und komm.«

Hastig schlüpfte ich aus meiner Jacke und den Schuhen, bevor ich ihm die Treppe nach oben zu Harpers Tür folgte. Vorsichtig klopfte er gegen sie.

»Harper?«

Mein Herz pochte, während ich verharrte und auf eine Antwort horchte. Doch sie kam nicht.

»Harper, Sullivan ist hier.«

Und wieder kam keine Reaktion. Unruhig trat ich von einem Bein aufs andere. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, hier aufzukreuzen.

»Harper.« Wieder klopfte Harpers Vater gegen die Tür, nur diesmal energischer. Aber eine Antwort blieb auch dieses Mal aus.

Mir entfuhr ein Seufzen.

»Harper Mae Dakota Dewey!«

Erschrocken zuckte ich bei seiner lauten Stimme zusammen und trat einen Schritt zurück. »Du lässt den armen Kerl nicht einfach hier draußen stehen. Du kannst ihm nicht so die kalte Schulter zeigen, wo er gar nichts getan hat.«

Wieder fuhr ich mir durch die Haare und versuchte das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Ich sollte einfach wieder gehen. Ja, genau, das wäre beste. Ich–

Ein plötzliches Knacken riss mich aus meinen Gedanken. Ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und kurz darauf sprang die Tür einen winzigkleinen Spalt auf.

Mein Herz drohte aus meiner Brust zu springen.

»Bitte«, meinte Dalton und deutete mir an das Zimmer zu betreten. Ich kam mir vor, als würde ich Heiliges Land betreten.

Ich schluckte und nickte Harpers Dad dankend zu, bevor ich meine Hand gegen die Holztür legte und sie vorsichtig aufdrückte. Dalton drehte sich um und verschwand die Treppe nach unten, während ich Harpers Zimmer betrat und die Tür hinter mir schloss.

Das Zimmer war dunkel. Nur ein paar kleine Lichtstrahlen fielen durch die Gardinen an den Fenstern und hüllten den Raum in ein dämmriges Licht.

Mein Blick wanderte zum Bett und im nächsten Moment musste ich heftig schlucken. Harper saß eingewickelt in ihre Decke auf dem Bett und blickte mir mit dem wohl traurigsten Blick entgegen, den ich jemals bei einem Menschen gesehen hatte.

Ich konnte förmlich hören wie mein Herz Risse bekam und langsam in Tausende von Teile zerbrach. Der Anblick von ihr schnürte mir die Kehle zu.

Was hatte ich nur getan.

In den letzten Tagen hatte ich mir versucht einzureden, dass nichts davon meine Schuld war. Aber jetzt wo ich sie sah, war es wie ein harter Schlag ins Gesicht. Ich war schuld. Ich hatte ihr unbedingt das Schlittschuhfahren beibringen wollte. Ich hatte sie aufs Eis gezogen. Es war meine Schuld, dass das passiert war, was auch immer passiert war.

Ich versuchte den dicken Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken und nicht allzu überfordert und schockiert zu wirken. Doch es war unfassbar schwer, weil mir nach wie vor Millionen von Fragen im Kopf herumschwirrten und ich endlich Antworten darauf haben wollte.

Was genau war passiert? Was ist in Harpers Kopf vorgegangen? Warum hatte sie nicht auf mich reagiert? Warum ist sie einfach wegerannt? Warum–

Als im nächsten Moment ein unterdrücktes Schluchzen an meine Ohren drang und Harper das Gesicht in ihren Händen vergrub, waren diese Gedanken wie verpufft. Pure Sorge schoss durch meine Adern und brachte mich dazu ohne zu überlegen auf Harpers Bett zuzusteuern und mich zu ihr niederzulassen. Ich bemühte mich meinen Blick nicht allzu sorgenerfüllt aussehen zu lassen, doch es war so gut wie unmöglich. Die Frage ›Was ist los?‹ musste mir förmlich auf der Stirn geschrieben stehen.

Vorsichtig linste Harper zu mir hinüber und sofort erblickte ich die zahllosen Tränen, die ihr über die Wangen liefen.

Der Anblick versetzte mir einen heftigen Stich in die Brust. Mein Herz zog sich zusammen, während sich ein dicker Kloß in meine Kehle zwängte und mir für wenige Sekunden das Atmen verwehrte.

Im nächsten Moment war ich bereits näher an Harry herangerückt, hatte meine Arme um sie gelegt und sie an mich gedrückt. Erst danach realisierte ich, was ich gerade getan hatte. Meine Atmung wurde flach und meine Handflächen begannen wieder zu schwitzen. Was tat ich hier?

Ich konnte spüren, wie auch Harper sich versteifte und den Atem anhielt. Meine eigene Unsicherheit stieg, doch statt von Harry abzulassen, verharrte ich in meiner Position und hoffte darauf, dass Harper sich entspannte. Und das tat. Nach ein paar Sekunden atmete sie tief durch. Das Schluchzen verschwand und ihre Atmung wurde wieder regelmäßig. Sie lehnte sich an mich und legte ihre zierlichen Arme um meine Hüfte.

Erleichtert zog ich sie noch ein Stückchen näher zu mir und strich ihr langsam über den Rücken. Mir war egal, ob sie mein Herz pochen hören konnte. Es schlug wahrlich so schnell und heftig, dass ich glaubte, es würde jeden Moment aus meiner Brust springen. Aber hier ging es nicht um mich, sondern allein um Harper.

Eddie hatte mich früher auch immer umarmt, wenn es mir schlecht gegangen war. Sie hatte mich genommen, festgehalten und erst wieder losgelassen, nachdem sie sicher war, dass ich nicht länger weinen würde.

Und das Gleiche tat ich nun bei Harry. Ich hielt sie, strich ihr über den Rücken und atmete dabei ihren wunderbar herrlichen Duft von Ahornsirup ein.

Ich hielt sie so lange, dass wir irgendwann statt zu sitzen, nebeneinanderlagen. Sie in meinen Armen und ihr Gesicht in meinem Pullover vergraben. Ihre Atmung wurde immer ruhiger und ihr Körper immer weniger verkrampft.

Wirsprachen nicht ein Wort und doch glaubte ich, dass wir uns hierdurch nähergekommenwaren, als durch jedes Gespräch, das wir jemals geführt hatten. Sie klammerte sichan mich, als wäre ihr Fels in der Brandung und ich genoss jede Sekunde davon. Esmochte vielleicht merkwürdig sein, ihr mit einem Mal so nah zu sein, dochgleichzeitig war es das wohl schönste auf der Welt.    

Greatest PretendersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt