H a r p e r

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Das Gefühl verschwand auch nicht während der nächsten Stunden. Es blieb und machte mich von Stunde zu Stunde hibbeliger.

Umso froher war ich als es um drei endlich gongte und ich von meinem Schultag befreit wurde. Ich packte meine Sachen zusammen, schulterte meinen Rucksack und machte mich ohne Umschweife auf den Weg nach draußen. Da Sully mich heute Morgen mitgenommen hatte und ich Dad nicht fragen wollte, ob er mich abholte, musste ich wohl oder übel nach Hause laufen. Mir machte das allerdings nicht viel aus. Ich lief gerne und es waren ohnehin nur zwanzig Minuten.

Ich zog mir meine Wollmütze tiefer in die Stirn und steckte meine eisigen Finger in die Taschen meiner Jacke. Mit langen Schritten eilte ich über den Parkplatz, verließ das Schulgelände durchs Tor und wollte gerade die Straße überqueren, als genau vor meine Nase ein Auto hielt. Verdattert blickte ich auf und erkannte sofort Sullivan, der hinter dem Lenkrad saß und nun das Fenster hinunterkurbelte.

»Steig ein«, meinte er grinsend und ich ließ mir kein zweites Mal sagen. Ich lief um die Motorhaube herum, nahm die bereits geöffnete Tür von Sully entgegen und ließ mich auf den Beifahrersitz plumpsen. Das unwohle Kribbeln in meinem Bauch hatte aufgehört.

»Hi«, begrüßte ich ihn. Ich schnallte mich an und Sully gab wieder Gas.

»Danke, dass du mich mitnimmst, aber ich hoffe du weißt, dass du das nicht tun musst... oder?« Ich wollte in keinem Fall, dass Sully dachte, er müsste sich um mich kümmern. Ich hasste es, irgendwem zur Last zu fallen.

»Keine Sorge, das weiß ich.« Er blickte zu mir und schenkte mir ein Lächeln. »Ich tue's aber einfach gerne.« Ich erwiderte sein Lächeln und wandte meinen Blick von ihm ab. Er tat es mir gleich und konzentrierte sich wieder auf die Straße vor uns.

Genauso schnell wie heute Morgen waren wir bei mir. Sully stellte den Motor ab, ich löste meinen Gurt und griff nach meiner Tasche. Während ich dachte, Sully würde sitzen bleiben, stieg er mit aus und begleitete mich bis vor die Haustür. Ich warf einen Blick hinüber zum Wagen von Dad und fragte mich, ob er gemütlich im Wohnzimmer oder womöglich in der Küche saß und uns durchs Fenster beobachten konnte.

»Harper?«

Verdutzt schüttelte ich meinen Kopf und drehte mich zu Sully um. Er stand dicht hinter mir und kratzte sich unentschlossen am Hinterkopf. Eine skeptische Falte schlich sich auf meine Stirn.

»Ich wollte dich schon länger etwas fragen und ich weiß, dass ich mich damit vielleicht selbst ins Aus schieße, aber ich würde es zu gerne wissen.« Er biss sich auf die Unterlippe und schaute unsicher zu mir.

»Was?« Neugierig und zugleich ein wenig angsterfüllt blickte ich ihn an.

»Warum seh ich dich nie mit jemanden in der Schule?«

Autsch. Das war genau die Frage, die man als jemand ohne Freunde, nie hören wollte. Es war ja nicht so als wäre unglücklich damit, aber bisher hatte ich niemals jemanden getroffen, der nachvollziehen konnte, warum ich lieber alleine war.

Unsicher zuckte ich die Schultern. Ich war mir unschlüssig darüber, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte. Ich wollte nicht, dass er mich mit genau dem gleichen Unverständnis ansah wie alle anderen vor ihm.

»Harry?«

Mir entfuhr ein Seufzen und im nächsten Moment war ich bereits über meinen eigenen Schatten gesprungen.

»Ich hab niemanden, mit dem ich in der Schule reden könnte.«

Verdattert starrte er mich an.

»Gibt es niemanden?«

Greatest PretendersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt