S u l l i v a n

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Murrend stieß ich die Tür der Toilette auf und zog mir meine Kapuze tiefer ins Gesicht. Die nassen Hände wischte ich notgedrungen an meinem Pullover ab, bevor ich sie zurück in die Taschen meiner Jacke stopfte.

Es war Jahre her, dass ich mich so beschissen wie in den letzten Tag gefühlt hatte. Ich hatte keinen Boden unter den Füßen, wusste nicht wo oben und unten war und wusste noch weniger, was als nächstes passieren würde.

Seit Samstag schwebte ich in dieser grauenhaften Blase der unwissenden Wut und konnte mich einfach nicht daraus befreien. Es fühlte sich an... als wäre ich getackelt worden – wie beim Eishockey. Es war diese Sekunde zwischen dem Crash und dem Aufprall auf dem Eis. Ich konnte jeden Moment gegen die Bande krachen, mit dem Kopf aufs Eis schlagen oder einen Schlittschuh in die Rippen bekommen. Ich schwebte irgendwo und irgendwie dazwischen und wartete praktisch darauf, dass der Schmerz kam.

Und der wird kommen, das wusste ich mit Sicherheit. Schließlich hatte ich nun auch die letzte Sache, die in meinem Leben halbwegs gut lief, in den Sand gesetzt. Ich hatte Harper vor den Kopf gestoßen, sie behandelt wie sie es nicht verdient hatte und mich damit eigenständig ins Aus befördert.

Es war nur eine Frage der Zeit bis sie mit ihren Versuchen mit mir zu reden durchkam und ich sie endgültig vertreiben würde. Denn egal wie viele oder wenige Fragen sie mir stellte, ich werde mich immer in die Enge gedrängt fühlen. Genauso wie am Samstag nach dem Abendessen mit Harper und genauso wie beim Gespräch zwischen Conall und mir bei ihm Zuhause. Ich werde nie den Mumm haben die Wahrheit zu erzählen. Ich werde nie mit den Lügen aufhören. Und vor allem werde ich nicht damit aufhören können Menschen dadurch auf Abstand zu halten. Egal, ob ich es wollte oder nicht.

Ich zog die Nase hoch und lief mit starr auf den Boden gerichtetem Blick den Flur entlang.

Nach Samstag hatte ich kein Wort mehr mit Harry gesprochen. Ich hatte sie nicht zur Schule gefahren, hatte nicht auf ihre Nachrichten oder Anrufe reagiert und hatte ihr in der Mittagspause auch keine Gesellschaft geleistet. Um genau zu sein, hatte ich jede Möglichkeit genutzt, um sie zu meiden.

Und dabei hatte ich es immer so genossen sie in meiner Gegenwart zu haben.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte die Gedanken um Harry zu verbannen. Doch es half nichts. Sie kehrten immer wieder zurück, schwebten durch meinen Kopf und wollten mich partout nicht in Ruhe lassen. Sie redeten mir ein schlechtes Gewissen ein und rieten mir zeitgleich nicht länger Harrys kostbare Zeit zu verschwenden.

Seufzend stieß ich die Eingangstür auf und überquerte kurz darauf den Parkplatz. Völlig verlassen stand mein Wagen auf dem kleinen Parkplatz und ließ sich von dem Nieselregen berieselt, der nun auch mich halb durchnässte. Genervt verschnellerte ich meine Schritte und wich mit meinen langen Beinen den kleinen Pfützen aus.

»Sully!«

Meine Füße schienen mir für einen Augenblick den Dienst versagen zu wollen. Ich stolperte leicht, fand jedoch mein Gleichgewicht wieder und setzte meinen Weg im gleichen Tempo fort.

Ich wusste genau, wer nach mir gerufen hatte. Wer mir hinterlief und mich um jeden Preis zur Rede stellen wollen. Harry.

»Sully!«, rief sie erneut und mich durchfuhr ein unbändiger Schauer.

»Sullivan!«

Ein gewaltiger Blitz jagte beim Klang ihrer Stimme durch meinen Körper und als sie kurz darauf meinen Arm zu packen bekam, schien alles in mir unter Strom zu stehen. Ich zuckte zusammen, drehte mich um und trat einen Schritt zurück. Bereitwillig ließ Harry meinen Arm aus ihrer Hand gleiten.

Mein Herz pumpte, meine Hände begannen zu schwitzen und an den Kloß in meinem Hals wollte ich gar nicht erst denken.

Es war quälend ihren forschenden Blick so auf mir zu spüren. Förmlich zu fühlen wie sie sich auf mein Verhalten ein Reim zu machen versuchte.

Verärgert über mich selbst presste ich meine Zähne aufeinander und hob abwartend meine Augenbrauen. Ich wusste selbst wie unhöflich es war, wie abweisend es auf sie wirken mochte, aber... es war wohl die einzige Möglichkeit. Ich wusste schlichtweg nicht wie ich mir anders helfen sollte. Wie ich vermeiden sollte, dass Harper hinter mein Geheimnis kam. Denn dass ich eins besaß, musste inzwischen auch sie verstanden haben.

»Was ist los mit dir?«

Wieder zuckte ich beim Klang ihrer Stimme zusammen. Meine Mauern fielen für den Bruchteil einer Sekunde zusammen und baten Harry die Möglichkeit in mir zu lesen wie in einem offenem Buch. Doch so schnell wie die Fassade gefallen war, stand sie auch wieder. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und stieß ein verächtliches Schnauben aus.

»Alles super«, erwiderte ich, wobei ich viel zu erschöpft war, um die Bitterkeit in meiner Stimme zu vertuschen. Ich hatte die letzten Nächte kaum geschlafen.

Ich schielte vorsichtig zu ihr hinüber und konnte beobachten wie sie schluckte. In mir zog sich alles zusammen.

»Das glaub ich dir nicht.«

Mein Körper zuckte zurück, doch meine Mauern blieben standhaft.

»Nicht mein Problem.« Ich blickte ihr mit starrem Blick entgegen und ließ meine Stimme so gleichgültig wie möglich klingen. Nahezu gelangweilt. Meinen Worten wies ich nichts als Belanglosigkeit zu. Dabei hätte ich ihr so viel lieber gesagt wie leid mir alles tat. Ich hätte am liebsten um Verzeihung gebeten, um Vergebung und um den Gefallen, meine Worte nicht ernst zu nehmen.

Sie runzelte die Stirn und strich sich eine ihrer feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihr Blick fuhr musternd über mich und für den Augenblick hatte ich das Gefühl als wüsste sie, was wirklich in mir vorging. Als wüsste sie, dass das hier nicht ich war. Dass es nur eine Fassade war und mir alles furchtbar leid tat.

»Ist das dein Ernst?«

Ich unterdrückte ein Schlucken. Die Art wie sie mich ansah: auffordernd, enttäuscht und gleichzeitig wütend. Sie konnte nicht fassen, dass ich so war wie ich gerade war.

»Vergiss uns einfach.«

Mein Herz stach bei dem Gedanken daran, dass es eigentlich nie ein richtiges unsgegeben hatte und es nun auch keins mehr geben wird. Ich hatte es alles verbockt.

Kaum hatte ich meine Worte ausgesprochen, wich für ein paar Sekunden jegliche Regung aus Harpers Gesicht. Sie starrte mich an voller Fassungslosigkeit, nur um dann alle Stufen der Trauer auf einmal zu erleben. Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Binnen weniger Sekunden fuhren sie über ihr Gesicht, richteten ihr Chaos an und ließen letztendlich die pure Trauer in all ihrer Stärke zurück.

»Ach, du willst dich jetzt also verdünnisierten? Einfach so?!« Sie sah mich an, ließ ihren Blick rastlos zwischen meinen Augen hin und her springen und konnte wohl nicht fassen, was sie sah. Gleichgültigkeit. Ich blickte sie an und unterdrückte dabei jede Emotion, die sich in mir auftat. Die Mauern waren hochgezogen, die Schlösser verschlossen und jedes Gefühl in mir uneinsichtig für die Welt da draußen.

»Du warst doch derjenige, der nicht aufhören konnte mir hinunterzulaufen. Der immer wieder einfach neben mir aufgetaucht ist.«

Mein Herz stolperte als ich die erste Träne in ihrem Augenwinkel aufblitzen sah. Was in Gottes Namen hatte ich mir hierbei gedacht?

»Und dann wartest du bis ich mich mit der Idee, dich um mich zu haben, angefreundet habe, bevor du dich abwendest?«

Ich erwiderte ihren Blick und sah doch durch sie hindurch. Das Bild von ihr vor meinen Augen verschwamm und ließ eine bedrückende Leere in mir zurück. Ich konnte sie nicht weinen sehen. Nicht noch mal. Und erst recht nicht wegen mir.

»Das ist der Grund, warum ich keine Freunde will. Es gibt immer einen dummen Grund, warum sie dich letztendlich hängen lassen.«

Und dann drehte sie sich weg. Sie marschierte davon und warf nicht einen Blick zurück.

Greatest PretendersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt