H a r p e r

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Es war unmöglich zu beschreiben, wie ich mich fühlte. Einerseits war es das gleiche, grauenhafte Gefühl wie vor zwei Jahren und andererseits soviel schlimmer. Zu wissen, dass ich bereits dagegen angekämpft hatte, zu wissen, dass ich bereits erfolgreich gewesen war und nun doch wieder dort stand, wo ich angefangen hatte.

Ich hatte Angst. Panische Angst. Ich traute mich nicht einmal meine Augen zu schließen, weil ich sonst nur wieder all die grausamen Bilder vor mir sah.

Doch wenn ich sie nicht schloss, sah ich sie auch. Sie spielten sich wie ein Film vor meinen Augen ab und trieben mich damit an den Rand meiner Kräfte.

Ich hörte die brüchige Stimme meines Dads. Spürte das Pochen in meinem Rücken. Doch vor allem fühlte ich das unbeschreibliche Gefühl des Verlusts. An diesem Tag war mir ein Teil meines Lebens genommen worden und er würde vermutlich nie wieder zurückkehren.

Mit Mühe unterdrückte ich ein Schluchzen.

Wie ein kümmerlicher Haufen lag ich zusammen gerollt in meinem Bett, hatte mir die Decke über den Kopf gezogen und meinen Kopf mit den eigenen Armen umklammert.

Früher hatte ich nächtelang in dieser Position verharrt, doch nun war jede Sekunde eine Qual. Mein Herz hämmerte, meine Nase lief und die Tränen, die über meine Wangen liefen, waren kaum zu zählen.

Alles, wofür ich die letzten zwei Jahre geschuftet hatte, war binnen weniger Sekunden wie ein Kartenhaus über mir zusammengefallen. Und das zeigte mir nur, dass all die Arbeit umsonst gewesen war. Ich hatte nichts verarbeitet. Nicht von alldem hatte ich abgehakt oder hinter mich gelassen. Nichts.

Denn offenbar genügten zehn Sekunden auf dem Eis, um mich wieder ganz an den Anfang zu katapultieren. Dahin, wo ich nie wieder hinwollte. Dort, wo der Abgrund nur wenige Millimeter entfernt war.

»Harper?«

Ich kniff wimmernd die Augen zusammen und versuchte mein Schluchzen zu unterdrücken.

Seit gestern versuchte Dad zu mir durchzudringen. Doch statt ihn an mich ranzulassen, verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer, verweigerte das Abendessen und reagierte nicht auf seine Versuche mit mir ein Gespräch zu führen. Ich lag einfach nur in meinem Bett und versuchte diese grässlichen Bilder zu verdrängen, die sich so vehement in mein Gehirn bohrten. Immer und immer und immer und immer wieder.

»Harper, bitte.« Seine Fingerknöchel klopften gegen die Tür. Dad war nicht dumm. Er hatte alles miterlebt. Er konnte es ahnen.

Er stieß ein tiefes Seufzen aus. »Ich mach mir wirklich Sorgen.«

Wieder entfuhr mir ein Schluchzen, für das ich mich am liebsten selbst verflucht hätte. Ich hasste es, Schwäche zu zeigen.

»Beanie.«

Mein Herz schmerzte bei dem Klang seiner Stimme. Es war grauenhaft von mir, dass ich ihm das antat.

»Ich hab dich die ganze Nacht gehört. Bitte sag mir, was vorgefallen ist.«

Ich versuchte tief durchzuatmen, doch stattdessen stahl sich ein Schluckauf meinen Hals hinauf.

»Ich verspreche dir, du musst nicht zur Schule.«

Ich presste meine Lippen aufeinander und kämpfte gegen den nächsten Schwall von Tränen an. Damals war ich über vier Monate nicht zur Schule gegangen. Und Dad hatte nie etwas dagegen eingewendet. Er war immer verständnisvoll gewesen.

»Darf ich reinkommen, Beanie?«, fragte er sanft und durchbrach damit auch meine letzten Schutzmauern.

»Ja«, krächzte ich und auch wenn ich glaubte, es wäre zu leise gewesen, konnte ich kurz darauf hören, wie er den Reserveschlüssel von außen ins Schloss steckte, herumdrehte und die Tür vorsichtig aufstieß.

»Ach, Beanie«, hörte ich ihn seufzen und kurz darauf senkte sich die Matratze neben mir nieder. Ich musste ihm nicht sagen, was los war. Er wusste es. Er wusste, dass alles wieder zurückgekommen war und ich zu schwach war, um damit vernünftig umzugehen. Er wusste, dass ich Angst hatte und das ich daran zerbrach.

»Es war wie damals«, wisperte ich ohne die Decke von meinem Gesicht zu nehmen und verfiel augenblicklich in ein Durcheinander aus Schluckauf und Schluchzern.

Ich fühlte mich wie ein absolutes Wrack.

Greatest PretendersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt