H a r p e r

4.4K 336 50
                                    

Ich nahm einen tiefen Atemzug, bevor ich meinen Blick von dem Wort abwandte und aus dem Auto stieg. Dad schlug die Fahrertür zu, kam zu mir und gemeinsam traten wir durch das eiserne Tor.

Ich hakte mich bei Dad ein und warf ihm einen flüchtigen Blick zu, bevor ich meine Augen zurück auf den Kiesweg vor uns richtete. Immer wenn wir hier lang liefen, legte sich ein düsterer Schatten über sein Gesicht. Er ließ seine Mundwinkel nach unten sacken, verschleierte seine Augen und schien Dad meilenweit von mir wegzutragen.

Es musste grausam für ihn sein. Mom war die Liebe seines Lebens. Das hatte er oft genug erwähnt. Er war ihr mit jeder Zelle verfallen, hatte sie vergöttert und es bis heute nicht verkraftet, dass sie weg war. Dass sie einfach nicht mehr da war.

Bei diesem Gedanken zog sich mein Herz immer wieder schmerzhaft zusammen. Ein Stechen durchzog meine Brust und bereitete mir einen dicken Kloß im Hals.

Dad hatte so ein Trauerspiel nicht verdient. Eigentlich hatte das niemand.

Meine Gedanken wanderten zurück in die Gegenwart. Ich registrierte die dünne Schneeschicht, die den Schotterweg nur schwach bedeckte. Wie die kleinen Steinchen unter unseren Schritten knirschten.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich war den Weg schon so unzählige Male gelaufen, dass ich ihn bereits im Schlaf beherrschte.

Dad atmete tief durch und blieb stehen. Wir waren da. Hier vor Moms Grab.

Wieder warf ich einen Blick zu Dad hinüber. Doch statt ihn zu erwidern, starrte er stumm auf den Grabstein vor uns. Er fixierte ihn mit leerem Blick und bemerkte offenbar gar nicht, dass seine Hand und der sich darin befindende Blumenstrauß nach wenigen Sekunden zu zittern begannen. Mein Herz zog sich bei dem Anblick schmerzlich zusammen.

Es war nicht fair, dass Dad so etwas mitmachen musste. Dass er kein langes Leben mit Mom führen konnte, wobei es ihm doch in jedem Fall zugestanden hätte. Es war nicht fair und doch konnte niemand daran etwas ändern.

Behutsam rückte ich noch näher an Dad heran und lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter. Und endlich schien er aus seiner Trance zu erwachen. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und lehnte seinen Kopf gegen meinen.

»Wenn sie nur sehen könnte, wie bezaubernd du inzwischen aussiehst.«

Ein stummes Lächeln schob sich bei seinen Worten auf meine Lippen.

»Sie soll viel lieber sehen, wie gut du als Dad bist.« Ich schloss für einen Moment meine Augen und konnte spüren, wie er einen tiefen Atemzug nahm.

Über all die Jahre war es beinahe unausweichlich gewesen, Dad anzusehen, wie sehr er mit sich kämpfte. Mit all seinen Zweifeln, der Trauer und der stetigen Angst, dass das Universum ihm auch noch mich wegnehmen würde.

»Danke, Beanie.«

Er drückte mir einen langen Kuss auf den Kopf, bevor er sich von mir löste und die Blumen vor Moms Grabstein legte. Er verharrte ein paar Sekunden in der Hocke, blickte auf die Inschrift und erhob sich erst, nachdem er einen Kuss auf den Grabstein gedrückt hatte. Dafür küsste er die Innenseite seiner Finger und presste sie dann gegen den kalten Stein.

In meinem Hals bildete sich ein großer Kloß.

Als Dad wieder aufrecht stand, schob ich meinen Arm wieder über seinen und rückte so nah es ging an ihn. Er sollte spüren, dass er nicht alleine war.

»Willst du irgendwann wieder heiraten?«, brach ich die Stille ohne meinen Blick von Moms Grabstein abzuwenden. Diese Frage schwirrte mir in letzter Zeit immer öfter im Kopf herum, doch bisher hatte ich nie den Mut fassen können sie zu stellen.

Greatest PretendersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt