Kapitel 44

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Avery

Mein Körper bebte und ich weinte, weil ich die Erleichterung darüber, dass Elijah nichts passiert war, nicht in Worte fassen konnte. Ängstlich suchte ich seinen Körper nach Schusswunden ab. Sanft griff er nach meinen Händen und drückte sie an seine Brust. "Es ist alles gut, Avery", wisperte er mir gegen die Stirn und ich spürte, wie sie feucht wurde. Elijah weinte. Nicht so haltlos wie ich, aber die eine Träne, die ihm doch entkommen war, ließ mich endlich erahnen, wie er sich in den letzten Tagen gefühlt haben musste. Wie erleichtert er wohl sein musste.

Ich hörte die leisen Schritte der Kinder hinter mir, weigerte mich allerdings von Elijah abzulassen. Mit nicht halb so viel Kraft, wie ich mich an ihn klammerte, befreite er sich aus meinem Griff und versperrte die Sicht auf einen Körper, der auf dem Boden lag. "Lola, bring die Kinder raus!" Beinahe panisch, breitete er die Arme aus, um keines der Kinder an ihm vorbeizulassen. "Papa?" Es war das erste Mal, dass ich Olivia Elijah ihren Dad nennen hörte. Wie ein Blitz traf es auf mich ein.

Genau deswegen hatte sie niemand anderen als Elijah an sich herangelassen. Er war für sie die erste Bezugsperson gewesen, nachdem er sie aus der Hölle befreit hatte. Er war wie ein Vater für sie. Elijahs Gesichtszüge wurden weich, beinahe gequält blickte er auf das kleine Mädchen hinunter, die sich einen Weg zu ihm bahnte. Mir war bewusst, dass Elijah ihr niemals ausreden, oder ihr gar sagen würde, dass er nicht ihr Vater sein konnte. Jedenfalls nicht ihr biologischer.

Vielleicht fühlte er sich sogar schon so sehr für die Kinder verantwortlich wie ein Vater. Vielleicht war er wirklich der Vater all der Kinder hier. Was hatte Brian gesagt? Elijah war mehr als nur der Gründer von den Rettungsmissionen. Er hatte sein ganzes Herzblut in diese Sache gesteckt. Er liebte diese Kinder. Sie waren seine Familie. Sie waren auch meine Familie.

Elijah

Ich hatte nur darauf gewartet, dass Olivia mich als Vaterfigur ansehen würde. Ich hatte immer Angst davor gehabt, dass ich diese Rolle einnehmen musste, wenn ich Kinder zu mir nach Hause holte, die ihre Eltern schon lange an den schrecklichen Folgen des Drogenkonsums verloren hatten. Olivias Worte lösten in mir aber ein ganz anderes, neues Gefühl aus. Hatte ich mich nicht schon lange wie ein Vater für diese Bande gefühlt? War ich nicht viel mehr als dieses tätowierte Monster, das versuchte  Gutes zu bewirken und Kindern mit demselben Schicksal ein besseres Zuhause zu bieten?

Die Worte, dass ich nicht Olivias Vater war, lagen mir auf der Zunge, doch ich konnte sie nicht aussprechen. Ich konnte sie ihr nicht ins Gesicht sagen. Ich wollte es ihr nicht sagen. Viel mehr wollte ich, dass sie mich ihren Vater nennen konnte, so oft sie wollte. Solange sie sich dadurch besser fühlte.

"Olivia, Süße, du musst jetzt mit Lola mitgehen." Ich bückte mich zu ihr hinunter, bedacht, keinen Blick auf Masons Leiche hinter mir freizugeben. Kurz schaute sie mich nur an und sagte nichts. Dann allerdings hoben sich ihre Mundwinkel und ihre weißen Kinderzähne kamen zum Vorschein. Wie konnte sie nur lachen, nach alle dem, was passiert war? "Okay", sagte sie schließlich, kuschelte sich für einen kurzen Moment an meinen Arm und folgte Lola, die wie versteinert versuchte, einen letzten Blick auf den Mann zu erhaschen, der wie ein Bruder für sie gewesen war. "Es tut mir leid, Lola", rief ich ihr hinterher, doch meine Worte waren nutzlos.

Sie erwiderte nichts auf meine Entschuldigung. Ich wusste, genauso wie Brian, würde sie Zeit brauchen. Wir alle würden Zeit brauchen. Und es schmerzte so sehr wie nichts, die Worte aussprechen zu müssen, vor denen ich mich so sehr fürchtete. Es schmerzte mehr, als der Gedanke an die Todesstrafe, mehr, als der Gedanke daran, jetzt an Masons Stelle auf dem staubigen Boden zu liegen, ohne jegliches Leben in mir. Ich schluckte. Ich konnte sie noch nicht aussprechen.

Avery schlug sich die Hand vor den Mund, als meine Mauer, die sich wie einen Schleier über Masons Leiche gelegt hatte, an Halt verlor. Ich bereute es sofort, und egal wie sehr mein Rücken schmerzte, wie sehr mein ganzer Körper eine einzige Wunde war, ich hielt sie davon ab, weiterzugehen. "Er ist also wirklich tot", brachte sie erstickt hervor und blickte zu Brian, der den Blick nicht von seinem Bruder nehmen konnte. Die Pistole lag schon lange neben ihm auf dem Boden und er hatte sich niedergekniet und weinte. Er streckte die Hand nach Mason aus, doch er berührte ihn nicht. Es wirkte, als läge eine Wand zwischen den beiden Körpern.

"Brian hat es getan. Mason hätte sonst mich getötet", flüsterte ich so leise, dass es Brian in seiner Trauer nicht mitbekam. Wie sollte ich Brian jemals dafür danken, was er für mich getan hatte? Was er für mich und alle anderen aufgegeben hatte.

"Es tut mir leid", hörte ich ihn flüstern, doch seine Worte galten nicht mir. "Wieso hast du es mir so leichtgemacht, Mason? Wieso musstest du es tun?", fragte er beinahe wütend, doch seine Fragen wurden nicht beantwortet. Sie würden nie beantwortet werden. Endlich schaffte er es, seine Finger in das blutverschmierte T-Shirt zu graben, das ich Mason vor ein paar Jahren geschenkt hatte.

Ich zog Avery zurück in meine Arme, um mit ihr gemeinsam zu trauern. Dann umarmte ich Jack, der Brian schweigend dabei beobachtete, wie er Abschied nahm. Schuldgefühle, vollkommen fehl am Platz, nagten an mir. Der ganze verdammte Tag nagte an mir. "Als ich rausgerannt bin, hat mein Telefon plötzlich geklingelt. Steven er... er hat gemeint, dass Olivias Eltern verklagt wurden. Und Tylers. Ich weiß nicht, wie das möglich ist, Elijah, aber es liegen Anklagen gegen alle Eltern der Kinder vor." Jacks Stimme an meinem Ohr war so heißer, dass ich glaubte, mich verhört zu haben. Ich hatte jahrelang verzweifelt daran gearbeitet, die Schuld der Eltern zu beweisen. Ich wusste auch, warum Tylers Eltern eine Anklage an den Hals gehetzt bekommen hatten. Ich selbst hatte dafür gesorgt, aber erst nach einem Jahr. Wie verflucht, war das möglich?

"Wie..." Jack ließ mich nicht aussprechen. "Ich weiß es nicht. Elijah, meine Eltern werden ins Gefängnis kommen." Tränen standen ihm in den Augen, als er endlich das aussprach, was ihn jahrelang quälte. Was er sich sehnlichst gewünscht hatte. Plötzlich wurde der Druck auf meinem Herzen leichter. Der Schmerz linderte sich und ich war bereiter denn je, die Worte in meinem Mund, die so sehr schmerzten, rauszulassen. Vielleicht konnte ich sie sogar verändern, nachdem was Jack mir gerade erzählt hatte. "Das sind unglaubliche Nachrichten Jack", bringe ich beinahe lachend hervor, doch der Schmerz sitzt noch zu tief und lähmt meine Mundwinkel.

"Was?" Avery, die nach meiner Hand griff, hatte nichts davon mitbekommen. Jack erzählte ihr, was er erfahren hatte und Avery schloss ihn sofort in die Arme. "Ich freue mich auch für dich, Jack." Brian, dessen tränenverschmiertes Gesicht puren Schmerz ausdrückte, klopfte ihm auf die Schulter und blickte nicht noch einmal zurück. Mason hatte uns hintergangen, aber er hatte dennoch zur Familie gehört. "Anscheinend wirst du in den Nachrichten sogar von den Menschen als tätowierten Held bezeichnet.", erzählte Jack weiter, was Steven ihm berichtet hatte.

Tätowierter Held. Der Name lief mir kalt den Rücken hinunter. Es war mir egal, für was mich die Menschen hielten. Tätowiertes Monster oder tätowierter Held. Es änderte nichts daran, dass die Polizei niemals aufhören würde, nach mir zu suchen. Und Averys Vater niemals aufhören würde, nach ihr zu suchen. Ich blickte zurück auf die Schönheit neben mir, und in diesem Moment wünschte ich mich nichts sehnlicher, als dass sie wieder so aussah, wie wir uns kennengelernt hatten. Die braunen Haare und keinen Stecker in der Nase. Ich wollte meine Avery wieder zurück, die lachte und sich über Pizza auf einem alten Dach freute. Und jetzt, gab es eine gute Chance, dass wir wieder dahin zurückkehren konnten, wo wir vor meiner Verhaftung stehen geblieben waren.

Nur etwas musste sich verändern. Etwas Gravierendes, das ich mir in den letzten Jahren niemals gewünscht hatte. Ich hatte mich regelrecht davor gefürchtet. Mein Blick huschte zu Jack und er wusste, was ich tun musste. Es war an der Zeit ihn gehen zu lassen. Es war an der Zeit, dass die Kinder ein Leben bekamen, das ohne Angst und Schrecken zu führen war. Mit Schmerz und Erleichterung in der Brust, blickte ich in die Runde, in der nur noch Lola fehlte. "Ich brauche eure Hilfe."

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Das hier ist das vorletzte Kapitel, so unglaublich das in meinen Ohren auch klingen mag.

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