Kapitel 45

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Es war ein kühler Tag, doch ich fror nicht. Ich trug einen Kapuzenpullover von Elijah, der mir einige Größen zu groß war und mich warmhielt. Es war Lola, die mich mit feuchten Augen in den Arm nahm und so fest zudrückte, dass ich augenblicklich an unsere erste Begegnung denken musste. Sie würde mir so sehr fehlen.

Ein Wagen kam hinter mir zum Stehen und Brian stieg aus. Er hatte seit zwei Tagen nicht mehr viel gesprochen, aber wir drängten ihn nicht. Wir alle wussten, wie stark er war und dass er alle Geschehnisse in den letzten Tagen erst einmal für sich verdauen musste, bevor er seine Gefühle teilen konnte. Und wenn er so weit war, würden Lola und Jack für ihn da sein.

"Ich werde dich vermissen", flüsterte mir meine Freundin ins Ohr, und dass ich sie noch fester an mich drückte, war Antwort genug. Ich verbat mir, auch nur eine Träne zu vergießen, doch als Jack auf mich zukam, und ich zum ersten Mal realisierte, dass er wie ein Bruder für mich war, verlor ich den Kampf.

"Richte Liv von mir liebe Grüße aus, ja?" Jack nickte und löste sich von mir. Für einen kurzen Moment schauten wir uns nur in die Augen und dann grinste Jack. "Die braunen Haare stehen dir übrigens besser." Ein leises Lachen entkam meine Kehle und ich schlug ihm gegen die Schulter, wie Lola es eigentlich immer tat.

Endlich sah ich, wie eine tätowierte Person aus dem Haus trat und das wenige Gepäck, für das ich mich entschieden hatte, in meine Richtung trug. Wie eine Horde wilder Tiere, sprangen die Kinder ihm hinterher und versuchten ihm alle gleichzeitig den kleinen Koffer aus den Händen zu reißen. Ich kicherte wohlmöglich wie ein kleines Kind, aber dieser Moment wirkte einfach zu unbeschwert auf mich, als dass er wahr sein konnte.

Ich seufzte wohlig auf, als ich Elijahs warme Hand sogar durch seinen dicken Pullover zu spüren glaubte. In seinen Augen lag die Trauer, die ich mich nicht traute auszusprechen. Lucy war die Erste, die mich in ihre kurzen Arme schloss. Ich war kurz davor wieder die Fassung zu verlieren und vergrub mein Gesicht für einen kurzen Moment in ihrem Haar. "Danke", nuschelte sie kaum hörbar und ich wusste sofort, dass sie von ihrer Mutter sprach. Wenn ich daran zurückdachte, wie mit ihrem Verschwinden eigentlich alles angefangen hatte, wollte ich am liebsten ihr danken. Ich hatte meinem Vater die Stirn geboten, auch wenn er immer noch derjenige war, der eine Gefahr darstellte.

Aber das Allerwichtigste war, ich hatte eine Person gefunden, mit der ich mein ganzes Leben verbringen wollte. Ganz egal, was die anderen Menschen von ihm hielten, für mich war er mehr, als das tätowierte Monster aus den Nachrichten. Für mich war er mehr, als es Harper und Noah jemals hätten sein können. Er war mein Held.

Luis war der Letzte, der sich von mir verabschiedete. Hinter seinem Rücken zauberte er eine wunderschöne, wenn auch etwas demolierte Blume hervor und streckte sie mir verlegen entgegen. Elijah neben mir verbarg sein Grinsen nicht, sondern schlug Luis stolz auf die Schulter wie ein Vater seinem Sohn. "Das hat er alles von mir gelernt", beteuerte er natürlich. Dankend gab ich Luis einen Kuss auf die rosa Wangen und wuschelte ihm zum Abschied noch einmal durch das blonde Haar.

"Pass gut auf dich auf, Avery." Brian nahm mich nicht in den Arm, aber ich konnte die Anerkennung in seinem Blick spüren. Eine lange Zeit hatte ich geglaubt, dass er mich unfähig dazu hielt, Elijahs Platz einzunehmen, doch langsam glaubte ich, dass ich falsch gelegen hatte. Er hatte mich nie unterschätzt.

Elijah war an der Reihe, doch er rührte sich nicht. Wie hypnotisiert blickte er in die Runde und faltete die Hände ineinander.
"Ihr glaubt gar nicht...", setzte er an, doch verstummte im nächsten Moment wieder.

"Ihr glaubt gar nicht, wie dankbar und stolz ich bin. Ich kann es gar nicht in Worte fassen, wie viel mir die letzten Jahre bedeutet haben und wie wertvoll ihr sie gemacht habt. Niemals hätte ich auch nur im Traum daran gedacht, solch eine wundervolle Familie zu bekommen, als ich Jack in mein Leben geholt habe. Ich war beinahe selbst noch ein Kind und trotzdem hat es mir so viel bedeutet. Wir alle sind hier aus einem Grund. Wir alle teilen dasselbe Schicksal, ganz egal mit welchem Hintergrund. Ihr seid meine Familie und das wird sich niemals ändern. Was wir in den letzten Jahren erlebt haben, wird mit Sicherheit niemand von uns vergessen. Ich werde all das für immer in meinem Herzen tragen. Mit euch. Das ist noch nicht das Ende. Das ist erst der Anfang. Ganz egal, wie weit Avery und ich auch fort sein werden, wir werden immer eine Möglichkeit finden, euch zu besuchen. Wer weiß, vielleicht können wir in ein paar Jahren wirklich wieder zurückkehren. Es gibt immerhin noch so viele Kinder, die unsere Hilfe brauchen und diese Pause wird nichts daran ändern. Ich liebe euch alle."

Prisoned Monster Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt