Anna
„Gehst du heute zu deiner Mutter?", fragte Leyla, während ich meinen Finger auf die Schneeflocken, die das Fenster schmückten, drückte.
„Hmm.", sagte ich immer noch fokussiert auf die Schneeflocken.
„Du kannst auch natürlich hier bleiben und mit uns Weihnachten feiern, wenn du willst.", bot sie mir an.
Ich zuckte mit den Schultern. „Meine Klamotten sollte ich sowieso holen, also werde ich heute bei ihr vorbeischauen müssen."
„Willst du, dass ich mitgehe?", sie löste meine Hand von dem Fenster und lag ihre auf meine.
Mit einem weiteren Schulternzucken antwortete ich.
„Ich kann auch im Auto warten, wenn du willst."
Ich beobachtete immer noch die Schneeflocken. Mich erinnerte dieses Weihnachten zu sehr an das Weihnachten vor neun Jahren, als meine Eltern mich noch lieb hatten. Mein Vater habe ich mittlerweile schon fast sieben Jahre nicht mehr gesehen, da meine Mutter nicht will, dass ich ihn sehe. Es fühlt sich so komisch an, denn ich vermisse ihn momentan nicht, aber mir fehlt trotzdem ein Vater. Mir fehlt einfach eine Person, die mir auf die Schulter klopft, mich lobt, böse Jungs von mir fernhält und mich tröstet, wenn ich Liebeskummer habe. Doch ich wusste, ich würde nie so eine Person bekommen, denn mein Vater ist nicht hier.
Wir beschlossen dann gemeinsam zu meiner Mutter fahren. Auf dem Weg dorthin fuhrt ich fast zwei Menschen an, aber das ist schon okay. Leyla hat zum Glück noch rechtzeitig „Halt!" geschrien. Heute war einfach nicht mein Tag. Es fühlte sich alles anders und merkwürdig an.
Auf dem Weg zu der Wohnung hoffte ich, meine Mutter ist nicht Zuhause, doch ich war mir ziemlich sicher, dass sie Zuhause war.
Ohne zu klingeln betrat ich die Wohnung. Sofort stieg mir ein starker Zigaretten Geruch in die Nase. Ich hörte lautes Lachen und Gläser klappern.
„Dir auch frohe Weihnachten, Mutter.", ich sah sie nicht eine Sekunde an. Stattdessen ging ich in mein Zimmer. So schnell wie ich konnte durchwühlte ich meinen Kleiderschrank und packte das Wichtigste in meine Reisetasche.
„Was fällt dir auf hier einfach so aufzutauchen?", die Tür hinter mir schlug die Frau mit voller Wucht zu.
„Ich bin deine Tochter, falls du es vergessen hast.", noch immer würdigte ich ihr nicht den geringsten Blick.
Ich warf meine Pullover in die Tasche, ohne zu schauen geschweige denn falten, denn ich wollte schnellstmöglich hier raus.
Ich spürte ihre abwertenden Blicke meine Rücken durchbohren, als ich eine Box aus dem Schreibtisch holte und einpackte.
„Viel Spaß noch beim ficken.", ich drängte mich an ihr vorbei und sah den grauhaarigen Mann, der halbnackt auf dem Sofa lag und eine Zigarette rauchte.
„Wenigstens bin ich keine Lesbe.", bei dem Wort „Lesbe" imitierte sie mit ihren Fingern ein Anführungszeichen.
Der alte Trottel im Hintergrund grinste nur wie ein Blöder.
„Stimmt, jeden Tag jemand anders zu ficken ist viel moralischer und wird deinem Gott bestimmt gefallen.", bei dem Wort „Gott" hebte ich diesmal meine beiden Finger und machte ihre vorherige Geste nach.
„Was hast du gesagt?", noch schneller als ich reagieren konnte spürte ich ihre Faust mit dem Goldring gegen mein Gesicht schlagen. Ich hebte mich an dem Tisch hinter mir und schlug dabei ausversehen ein paar Gläser auf den Boden.
„Lass dich nie wieder hier blicken.", bevor ich mich wieder aufrichten konnte spürte ich den nächsten Schlag, aber diesmal war er viel fester, so dass mir schwarz vor Augen wurde.
Mit einer Hand umklammerte ich die Tasche, mit der Anderen schlug ich um mich herum und lief aus der Wohnung.
„Scheiße, Anna.", ich haute die Autotür mit voller Kraft zu.
„Was ist passiert?"
Kein Wort kam aus meinem Mund, denn ich war zu traumatisiert oder wütend, um zu reden.
Ich tippte rhytmisch mit meinem Fuß auf den Boden.
„Alles wird gut, okay.", sie legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel und schute voller Mitleid in meine Augen.
DU LIEST GERADE
Die rosarote Stadt
RomanceImmer wenn Anna mit Leyla zusammen ist, verwandelt sich die sonst so graue Stadt in eine rosarote Metropole. Leyla will alles über Anna erfahren, doch diese hält ihre Geheimnisse tief verschlossen. Zwischen Sonnenuntergängen und Graffittis wollen b...