Kai

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Kai

Kai war ein Glücksfall. Fast überraschend hatte er sich angekündigt, als Tani einmal allein mit dem Großen ihre Eltern besucht hatte, dabei so gestresst durch den Burschen war, dass ihr eigentlich die Lust auf einen weiteren derartigen Rabauken fast vergangen war. So richtig auf den Punkt geplant war Kai nicht, aber Paul freute sich sehr über den Familienzuwachs, hatte sogar schon mit dem Gedanken an eine mögliche Adoption gespielt, um für den Ersten einen Spielkameraden zu haben, falls eine weitere Geburt für Tani nicht in Frage gekommen wäre. Die Geburt verlief diesmal zügig und problemlos, Kai hatte eine sogenannte Glückshaube, ein Teil der Fruchtblase auf dem Kopf, als er an einem heißen Junitag aus der Mama in die Welt rutschte.

Bevor er laufen konnte, war er für seinen großen Bruder keine Konkurrenz. Patriks Kinderpsychologin meinte, der würde sich mit dem Kleinen identifizieren. Ganz komplikationslos ließen sich auch Kais erste Tage nicht an. Stillen oder Flasche musste wieder entschieden werden. Kai bekam in seinen ersten Tagen zu wenig, so dass nach einem kurzen häuslichen Probeaufenthalt sogar sicherheitshalber noch einmal eine Klinik aufgesucht werden musste, und man sich dann dort auch endgültig für ausschließliche Flaschennahrung entschied. Alle zusammen machten sie im Sommer einige Reisen, nach Irland, keine Frage, auch bei Pauls Eltern, Freunden und Bekannten.

Noch im Herbst holte Paul das Au Pair, Pavlina, nach ihrer langen Busreise von Moskau nach Deutschland am Bahnhof in der Großstadt ab. Patrik wurde anfangs noch von Pavlina in die Villa gebracht und geholt. Seine Eltern hatten nun mehr Zeit für sich und nutzten die auch. Das Au Pair blieb auch noch ein zweites Jahr und wäre womöglich noch länger geblieben, hätte nicht Tani nach dem Platzen der Blase in der IT-Branche ihren immerhin fast dreizehn Jahre seit ihrer Ankunft in Deutschland ausgeübten Job verloren. Die Zentralverwaltung der Europa Organisation ihrer Firma wurde von Deutschland nach London verlegt, die Stabsstellen wanderten mit oder wurden gestrichen. Die Gelegenheit war für Tani nicht so ungünstig, sich neben der Jobsuche selbst um den Nachwuchs zu kümmern.

Sobald Kai mobiler wurde, zeigte sich für Patrik die Konkurrenz, und er versuchte dann oft klar zu machen, dass Kai sich hinter ihm einzureihen hatte. Klar, dass sie Eltern da öfters eingreifen mussten. Für Kai war es offenbar eine große Bereicherung seines noch kurzen Daseins, einen großen Bruder zu haben. Er verfolgte alle Aktivitäten seines umtriebigen Bruders mit größtem Interesse und versuchte, wo er konnte, ihm nachzueifern. Paul begriff die Situation als Patriks zweite Chance, ihm noch nicht ganz geläufige Lektionen im Sozialbereich zusammen mit seinem Bruder noch mal zu wiederholen.

Patrik wurde bald in seine erste Heilpädagogische Tagesstätte, kurz HPT, versetzt. Noch während Tanis Babypause kam Kai in den Kindergarten, bald drauf fand Tani auch wieder einen neuen Job, mit dem sie aber von Anfang an haderte. Mit Kai verliefen alle Kleinkindphasen, mit Kindergeburtstagen, Grundschule fast im üblichen Rahmen, jedenfalls mit weit weniger Besonderheiten, wie sie sich mit seinem großen Bruder ergeben hatten, und die sich bei diesem natürlich auch noch während Kais Kinderzeit fortsetzten, so dass Paul und Tani sich ihrem Jüngsten womöglich nicht immer mit der gleichen Aufmerksamkeit widmen konnten, wie sie der große Bruder forderte.

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt