Neue Deutung

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Neue Deutung

Paul hatte wohl in den Tagen davor bereits ein weiteres Email geschrieben, nicht wissend, wann oder ob er es überhaupt abschicken sollte. Jetzt hatte er doch noch einen Anlass dazu  bekommen. Er ergänzte dieses letzte Email noch um zwei, drei auf den Abend bezogene Sätze. Am folgenden Morgen durfte dieses dann auch noch raus. Auch diesmal hatte er sich für die Ansprache noch mal etwas einfallen lassen. Bei der Variante von Theas Vornamen handelt es sich bereits um eine Abkürzung. Die lässt sich nur noch schwer weiter vereinfachen, verliert dabei ihre Geschlechtsspezifik, aber irgendwo hatte er die Form gesehen und dokumentierte mit der Verwendung eine gewisse Relativierung seiner „ehemaligen Hochachtung“.

      Hi The,

      zwar wollte ich nach so viel Unsinn nichts mehr schreiben, aber meine Schwatzhaftigkeit bricht noch einmal durch. Die Emails schreibe ich eh mehr für mich, helfen sie doch sehr, die aus dem Ruder gelaufenen Emos wieder in den Griff zu bekommen. Vielleicht ist das aber auch nur der Zeit, dem halben Dutzend zum Thema gelesener Bücher, Wikipedia, den Foren oder den Gesprächen in meiner Gruppe zuzuschreiben. Die alten Emails zu lesen, ist manchmal auch ganz unterhaltsam, wobei ich dann immer noch rätsele, ob ich wohl mit allen Einfällen so völlig daneben lag. Was könnte dieses „Wenn.., dann.. -denn einiges fehlinterpretiert“ genau geheißen haben? War überhaupt auch richtig Interpretiertes dabei? Vieles meiner Emails hätte sich besser machen lassen, vor allem durch Straffen.

      So wie jetzt könnte ich den Faden zwar immer wieder aufnehmen und weiter spinnen, aus Emails zitieren, ein paar neue Gedanken, Beobachtungen hinzufügen. Doch der Spaß hält sich in Grenzen, laufend Persönliches auszuplaudern, aber kaum mehr zu bekommen, als im Netz nachzulesen, oder was ich selbst über die Monate geduldig gesammelt habe, vieles auf dem Weg zwischen unserem alten und dem neuen Domizil in der Gamskogelstraße. Gustav, die Bestie, hätte mich letzten Pfingsten einmal zum Entsetzen der Großmama fast angefallen, ich war wohl seinem Revier zu nahe gekommen.

      Immerhin hatte ich eine erneute Ansprache versprochen oder, je nach Sichtweise, auch angedroht. „vielleicht … in einem, in fünf oder zehn Jahren“ wollte ich ja doch noch mal auf mein ursprüngliches Thema zurückkommen. Außerdem hab ich jetzt wieder eine Chance mehr, der letzter Stand ist sogar drei von fünf, auf, wenigstens nach jeder zweiten meiner Emails, eine, wenn auch etwas knappe Antwort. Oder vielleicht führt es bei den gelegentlichen Begegnungen wieder zu etwas mehr Aufmerksamkeit. Gestern reichte dafür schon, einmal etwas früher zu kommen, um dem neuen Trainer-Dream-Team der ersten Leistungsgruppe beim Meistermachen zuzuschauen. Möglich, dass dieses Spekulieren über derartige Chancen schon wieder unter die "unbegründeten Hoffnungen" aus dem "Wenn-dann-denn"- Satz fällt. Dies herauszufinden, lässt mir noch immer nicht ganz meine Ruhe. Ganz ohne Spannung, nur nicht im Übermaß, würd mir wohl auch was fehlen.

      Die Herz- und Seelenschmerzen sind inzwischen anderen gewichen, es nagt auch nichts mehr, höchstens die inhaltlichen Ungenauigkeiten im letzten Email: Meine Illusionen sind nicht krachend geplatzt, die Präzision fiel hier der Fabulierlust zum Opfer, bekamen erst nur ein kleines Leck und schrumpften etwas. Das Leck schien sich wieder zu schließen. Sie konnten noch ein wenig atmen, bevor ihnen endgültig die Luft ausging. Das positive Ergebnis der Emailaktion war weniger Fakt, eher als ‚self fulfilling prophecy’ gedacht. Der Dank gilt dann eben dem Beitrag zu dem mir, wenn nicht das Wesen, so doch zumindest den Reiz des Lebens ausmachenden „Widerfahrenen“.

      In einem des halben Dutzend Bücher stand neben anderem, dass ungefähr fünfzig Prozent aller Frauen, sicher die interessantere Hälfte, und das laut Umfragen nach eigenen Angaben, routinemäßig Männer für sich zu interessieren suchen, ohne irgendwelche weiteren Absichten, als Sport, zum Zeitvertreib, um die Waffen zu testen. Vom nicht gefragten Teil verhalten sich viele, anderen Quellen zufolge, auch unbewusst so. Auf dem Gebiet lässt sich zwar fast alles ohne große Beweise behaupten. Es seien dann deren niedrigere Gehirnareale, ihre Gene. Aber warum sollte es Euch Frauen hier auch besser gehen?

Kaum ein Mann, ich schon gar nicht, hat etwas gegen solcherart spielerische Formen von Koketterie, im Gegenteil. Wer aber dieses Spiel falsch versteht, mehr einsetzt, als vernünftig vertretbar, sein Blatt überreizt, ist selber schuld, entweder ein Dummkopf oder ein Loser, was aber niemand gern auf Dauer ist. Aktive oder passive Rollen sind da nicht immer so klar verteilt. Ganz so schwungvoll, wie in diesem letzten Email, hätte ich mich wohl nicht auf den Bauch werfen sollen und auch nicht müssen. Meine Selbstachtung brauchte drauf eine Erholungspause. Ich wollte damals nur irgendetwas gegen das mich leicht verstörende "Verbergen" unternehmen. Es war ein Versuch, meiner Verantwortung hierfür nachzuspüren.

      Wirklicher Nutzen der ganzen Aktion bestand aus den wenigen erfreulichen Momenten, der Wahrnahme der mich eingefangen und nicht mehr so schnell losgelassen habenden, nonverbalen Kommunikation. Irgendetwas hat mich zumindest stark an- bzw. deutlich vernehmbar mit mir gesprochen: das Mona-Lisa Lächeln, das abrupte, kleinmädchenhafte Zu-Boden-Schauen. Was hatte es zu bedeuten? Ein schlechtes Gewissen? Ist man doch in bester Gesellschaft, manch Erfolg in Kunst oder Literatur hat sich aus ähnlichem Geschehen entwickelt. Ich hatte mich auch sehr über die einzige und deshalb mit besonderem Dank bedachte freundliche Begrüßung gefreut, mit der von gestern sind 's schon anderthalbe. Im Gegensatz dazu stand eine davor einmal nachgerufene, sehr viel weniger freundliche, wie auch immer gemeinte Begrüßung. Meine etwas heftige, unmittelbar aus dem Bauch erfolgte, Dörte erfreuende Entgegnung, Ha!- llo?! erklärt sich etwas aus im Abschnitt zuvor Gesagtem. Zusammen mit dem unwilligen Gesichtsausdruck musste man diese Erwiderung als "Ach, lass mich in Ruh!" verstehen, was ich tatsächlich in einer ähnlichen Situation einmal genauso herausgeschleudert hatte. Damals bekam ich noch unmittelbar eine Rückmeldung. Die Aufforderung löste einen gehörigen Schreck aus, deren Grund wurde aber schnell richtig verstanden, und diese dann zum Glück auch nicht wörtlich genommen.

      Die in früherem Email einmal angesprochene "Freude über eine solche Entdeckung" - oben aufgeführte Liste der Wahrnehmungen ließe sich noch fortsetzen - bleibt, auch wenn mir der Übergang zur Tagesordnung nicht immer leicht fiel. Eigentlich wollte ich von dieser Freude nur etwas zurückgeben. Wenn mir das bis jetzt immer noch nicht gelungen ist, werde ich mich damit abfinden, Emails dieser Art wirklich nur noch für mich zu schreiben und mir das Verschicken verkneifen, oder tatsächlich frühestens erst in vier Jahren mal wieder einen derartigen Versuch unternehmen. Mit einem "Schwamm über der ganzen Sache" ist bei mir auch nicht viel zu wollen. In Stein Gemeißeltem beizukommen, bedürfte eher einer Spitzhacke, die ich nicht nutzen möchte, da sich auch so allmählich Flechten und Gras drüber ausbreiten, ich aber ab und zu nachschauen kann, was noch zu erkennen ist.

                Gruß von Paul

Thea hat auf diese Email zwar nicht mehr schriftlich reagiert, eine kleine Reaktion gab es aber dennoch. Vom letzten Trainingscamp im Nachbarbezirk mit dem Kollegen Thomas aus Ihring gab es fast fünfzig Fotos auf der Vereinswebsite. Wie immer zeigen die Fotos die ganze Truppe in meist großartiger Stimmung bei allen möglichen Aktivitäten. Eine ganze Reihe diverser gestellter Gruppenfotos gab es auch, mit namentlich gekennzeichneten T-Shirts, um auch die Gesichter den Namen zuordnen zu können. Ein Foto zeigte Thea Arm in Arm mit Thomas. Kurz nach Pauls letztem Email wurde genau dieses Foto ausgetauscht. Zufall oder nicht, „ich hätte das Foto runterladen sollen, das glaubt mir sonst keiner, aber wer denkt auch an so was“, wunderte Paul sich noch.

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt