Bullen, Hunde und Katzen

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Bullen, Hunde und Katzen


Eines Abends während eines spätsommerlichen Aufenthalts bei den irischen Großeltern, machte nur Papa mit Sohn noch einen kleinen Spaziergang. Mama half Granny beim Abendessen. Patrik konnte inzwischen schon gut laufen, nur blieb er, wie er es sich auch später bei Ausflügen mit seinen Kindergruppen zur Gewohnheit machte, immer wieder mehr oder weniger weit zurück, schaute sich irgendetwas an, oder lief einfach absichtlich extrem langsam, so dass man mit ihm nur schwer vorwärts kam. Die Sonne war bereits am untergehen, es begann kühl zu werden. Paul drängte etwas zur Eile. Sie hatten noch einen guten Kilometer zu gehen.

In Irland gibt es nur sehr wenig Fußwege. Kleinere Ortsverbindungsstraßen, die dann auch von Fußgängern benutzt werden müssen, sind oft so schmal, dass zwei Fahrzeuge nur mit Mühe aneinander vorbeikommen. Eines der beiden bleibt dann oft stehen, drängt sich in irgendeine Einfahrt zu einem Acker oder einem Cottage, von denen es entweder links oder rechts spätestens alle hundert Meter immer wieder welche gibt, und lässt das andere passieren. Damals waren diese Straßen so spärlich befahren, die Fahrer in der Regel vorsichtig, immer zum Bremsen bereit, große Geschwindigkeiten waren auf den holprigen, gewundenen oft von Bäumen und Sträuchern tunnelhaft überwucherten Straßen auch kaum möglich, so dass für Fußgänger noch einigermaßen genügend Platz, und die Gefahr überschaubar war. Notfalls konnte man sich in die, die Straßen säumenden Gräben drücken, falls einem der Sicherheitsabstand nicht ausreichend erschien.

Paul trat seinem Youngster noch seine leichte Wind- und Regenschutzjacke ab, dachte, er würde die aufziehende Kälte wohl besser vertragen, als der kleine Mann, wollte sich dann aber wenigstens etwas schneller bewegen können. Aber es war nichts zu machen. An der Hand laufen wollte Patrik genauso wenig, wie sich auf den Schultern tragen lassen. Er wollte einfach nur für sich sein eigenes langsames Tempo laufen. Paul wollte es mit einem Trick versuchen. Er war gerade etwas voraus um eine Biegung gegangen, so dass Patrik ihn für einen Moment nicht sehen konnte, kletterte dann ein paar Meter weiter über den Wall hinter dem Straßengraben und verbarg sich noch hinter einem Baum. Es war kein Mensch weit und breit zu sehen, kein Fahrzeug zu hören. Nicht lange, dann sah und hörte er den Buben kommen und an seinem Versteck vorbeigehen, ohne dass der ihn bemerkte. Er wartete noch ein paar Sekunden und hielt sich gerade so von Patrik außer Sichtweite, aber selbst diesen immer wieder beobachtend hinter ihm. Ohne jede Panik, in aller Ruhe, ohne nach seinem Vater überhaupt zu schauen, geschweige denn zu rufen, setzte Patrik ganz gemütlich seinen Weg fort.

Leicht irritiert über so viel Selbständigkeit, sehr viel mehr über die Situation erstaunt als sein Söhnchen, wollte Paul das Spiel schon auflösen, da setzte Patrik dem Ganzen noch eine kleine Krone auf. Immer noch ihren Abstand, knapp außer Sicht, wahrend, näherten sie sich einer Bullenweide. Am Rand der Weide waren steinerne Mauern mit Pfosten, auf die man klettern konnte, um die Bullen besser zu beobachten. Paul hatte Patrik vorher gezeigt, wie man gelegentlich die jungen Bullen erschrecken konnte, indem man ruckartig die Arme ausbreitete und die Hände und Finger spreizte. Die neugierigen Bullen kamen oft zum Tor oder Gatter, wenn sich dort Menschen zeigten, und glotzten mit großen Augen, wer sich da ihrer Weide näherte. Tatsächlich manchmal klappte es, Paul hatte das irgendwo gelesen, dass Weidetiere instinktiv gespreizte Finger als Krallen ihrer Fressfeinde sehen könnten und das Weite suchten. So konnte man auf die Art die halbe Herde zu einer kurzen Flucht veranlassen, bis sie sich wieder umschauten, ob sie wirklich verfolgt würden, und man das Spiel noch ein-zweimal wiederholen konnte.

Genau das wollte Patrik jetzt auch mal für sich selbst ausprobieren. Paul sieht also von Weitem, wie Patrik auf der Mauer steht, mit der viel zu großen Windjacke ein bisschen wie ein Zwerg wirkend, und immer wieder ruckartig die Arme und Hände mit gespreizten Fingern ausbreitend, um so etwa wie ein mächtiger Meister Joda die ihn um ein mehrfaches überragenden Bullen über die Wiese zu jagen.

Normalerweise hätte man sich wohl Sorgen machen müssen, ob Patrik nicht seine Kletterküste überschätzen könnte und auf die Weide hätte fallen können. Paul wusste, dass Patrik schon in frühestem Kleinkindalter, kurz nachdem er laufen konnte, es schnell geschafft hatte über das Geländer seines Laufstalls zu steigen. Patrik stieg Paul dann beim Bäume schneiden auf der Leiter hinterher, oder bald auch direkt die Bäume hoch. Er war ein begeisterter, sicherer Kletterer. Er liebte es, an seine Grenzen zu gehen. Ob er die immer richtig einschätzen würde, mussten seine Eltern natürlich kritisch verfolgen. Zumindest wollte er seine Grenzen kennen lernen. Seine Eltern mussten sich damit abfinden, nicht überall und zu jeder Zeit dabei notfalls eingreifend daneben zu stehen und darauf vertrauen, dass das, was sie getan hatten, solange es ihnen noch möglich war, zur Vorbereitung auf riskante Situationen, in die sich ihr Kleiner nun öfters brachte, ausreichte.

Ähnliches wäre über Patrik auch beim Umgang mit Hunde oder Katzen zu erzählen. Mit seiner ersten Selbständigkeit machte er auf alles Jagd, was sich bewegte, und griff den Kleintieren dabei auch manchmal recht unsanft ins Fell. Hier begriff er aber relativ schnell, was den Tieren behagte und was nicht. So ein Hieb mit der Katzentatze oder ein kurzes Zuschnappen eines Hundes brennt sich offenbar schnell und nachhaltig ins Gedächtnis ein. Wenn umgekehrt ein größerer Hund auf Gesichtshöhe mit Patrik schnuppernd Tuchfühlung suchte, wich er nicht einen Schritt zurück, was ihm bei den Tieren wohl einen gewissen Respekt verschaffte.

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt