Strafmaß akzeptiert

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Strafmaß akzeptiert

Nach zwei Wochen vergeblichen Wartens war klar, dass die ganze Aktion einen Fehler hatte, etwas war schief gelaufen. Paul würde auch eine sprachlose Spannung bei einer Begegnung beim Schwimmen oder sonst wo nur schwer aushalten. Aber wenn es schon ein Fehler war, dann wollte er auch dazu stehen, Verantwortung übernehmen, sich entschuldigen aber zumindest versuchsweise auch rechtfertigen. Die meistbewährte Methode schien ihm wieder, seine Emotionen niederzuschreiben, gewürzt mit ein paar Bildern und Einfällen, die ihm in den unruhigen Nächten in diesen Tagen in den Sinn gekommen waren.

Paul wusste aus seinen Netzinfos, dass Madame in den neuen Bundesländern zu einer Zeit aufgewachsen war, als dort noch Russisch als erste Fremdsprache gelehrt wurde. Er selbst besuche seit Gorbatschow immer mal wieder Kurse der Volkshochschule in dieser Sprache, so setzte er in den Betreff des Emails „проще́ние“, das Wort für Verzeihung. Um seinen Versuch zu unterstreichen, wieder einen angemessenen Abstand zu gewinnen, wählte er eine sehr formelle Ansprache:

                Sehr geehrte Frau Dr. Tischler,

      diese Anrede mag jetzt übertrieben sein, soll aber die Absicht dieser Email unterstreichen. Ich geh jetzt einfach mal davon aus, dass die zweite Email von Ihnen und hoffentlich sonst niemand gelesen wurde, zumindest zwiespältige Reaktionen erzeugt hat, womöglich sogar mit Verärgerung aufgenommen wurde. Überhaupt keine Reaktion auf eine Email mit einer einfachen Entscheidungsfrage zu zeigen, das ist so ungefähr die Höchststrafe. Selbst hätte ich mir zwar mildernde Umstände zugebilligt für ein vergleichsweise bescheidenes Ansinnen/Vergehen, aber die Strafe ist wohl angemessen und wird akzeptiert. Ich weiß, ich bin schon wieder dabei, ein Stopp- Schild zu überfahren – nachdem das Strafmaß sich kaum steigern lässt, nehme ich dieses Risiko auch noch in Kauf.

      Ich war mir nie sicher, ob es richtig ist, was ich tue. Ich schwankte ständig zwischen überzeugtem Hochgefühl und nagendem Zweifel, oft im Tagesrhythmus. Letztlich wollte ich unbedingt herausfinden, welche Einschätzung die richtige war. Nachdem jetzt keine Reaktion kommt, ist klar, dass diese Emails wohl eine ziemliche Dummheit waren, für die ich mich entschuldigen möchte. Es tut mir leid, hier einen gebotenen Abstand verletzt zu haben. Immerhin war das erste Email auch schon sehr persönlich - die Reaktion war zwar ablehnend, aber absolut freundlich und höflich, vielleicht zu freundlich. Die Höflichkeit habe ich nicht so richtig verstanden und fühlte daher mich zur Fortsetzung angespornt.

      Eine Niederlage war, wie angedeutet, zwar schon einkalkuliert, man lernt im Sport auch damit umzugehen. Natürlich hätte ich noch gerne mehr erzählt, aber ich möchte niemanden langweilen. Ein paar mich brennend interessierende Fragen hätte ich auch noch gehabt, aber keiner möchte mit jedem Nächstbesten seine persönlichsten Verhältnisse diskutieren. Nur um die Geschichte für mich abzuschließen, um mein Vorgehen zu verteidigen, möchte ich gerne noch etwas loswerden. Wahrscheinlich auch durch die Jahreszeit bedingt hatte ich die letzten sechs Wochen nicht die völlige Kontrolle über meine verschiedenen Gehirnareale. Die tieferen Regionen hatten die Oberhand bekommen und ständig Befehle ausgeben, Aktivitäten zu entfalten, denen ich folgen musste, wenn ich nicht vom Schlaf abgehalten werden wollte oder auch nur versuchen wollte, mich auf anderes zu konzentrieren.

      Warum diese Aktivitäten sich gerade zu diesem Zeitpunkt und auf Sie bezogen haben, dazu noch ein paar Erläuterungen. Es ist immer wieder schön beim Sport, auch die anderen vor allem in den gemischten Gruppen, zu beobachten. Jeder tut es mehr oder weniger, die Biologie, die älteren Gehirnregionen sind am Werk. Ich weiß nicht genau, seit wie vielen Jahren ich Sie immer wieder im Bad sehe, einmal zumindest auch sonntags mit einer Kamera und den beiden Mädels, es liegt schon etwas zurück. Sie sind eine auffallende Person, von den so blonden, Blauäugigen mit eher preußischer Sprachfärbung gibt es hier im Süden Deutschlands nicht so viele. Wahrscheinlich, weil meine Mutter und meine Schwester fast ebenso blond und blauäugig waren, hat mich immer eher der Kontrast hierzu interessiert, aber Äußerlichkeiten sind hier nicht so wesentlich. Sie erschienen mir immer auch etwas zu konzentriert, zu angespannt, zu wenig locker, um eine unmittelbar unwiderstehliche Attraktivität zu entfalten, trotz absolut vorhandenem Potential. Ich hielt Sie aus welchen Gründen auch immer, weil ich nie einen Mann in der Nähe gesehen habe, für eine allein erziehende Mutter oder für eine unausgelastete schickimicki Mutter, die sehr viel Aufhebens um ihre Kinder macht. Auch Ihre Vorstellung auf der Vereins-Website, war nicht gerade geeignet, eine außergewöhnliche Frau zu beschreiben. Lesen gibt jeder Teenager als Hobby an, nur das Schwimmen und Joggen hätte wenigstens schon zum Triathlon gepasst. Aus allgemeinem Interesse und nach unsrer Spartenaufspaltung suchte ich vor einem Jahr unsere Gruppe wieder zu verstärken und sprach eine ganze Reihe aus dem Umfeld der Schwimmer - unter anderen auch Sie - auf Interesse am Triathlonsport an. Der Erfolg war eher mäßig, dann kam mein Knieproblem noch hinzu, und ich reduzierte mein Engagement, für die Sparte noch etwas zu tun, mehr und mehr.

      Meine Einstellung, meine Aufmerksamkeit, mein Interesse Ihnen gegenüber änderte sich erst anfangs des Jahres innerhalb weniger Augenblicke durch kleinste Begebenheiten. Ich glaubte, völlig unerwartet, mehrfach hintereinander per Körpersprache die Botschaft erhalten zu haben, nicht ungern gesehen zu werden, an meiner Person könnte irgendein Interesse bestehen. Normalerweise, in stabilen Beziehungen, freut man sich über eine solche Entdeckung und geht wieder zur Tagesordnung über. In spannungsreichen konfliktgeladenen Situationen ist die Bereitschaft, der latente Wunsch nach Ausbruch und Veränderung da, und die Suche nach Möglichkeiten der Konfliktlösung oder zumindest einer Verbesserung beispielsweise durch Gespräche mit Menschen in ähnlicher Lage oder auch nur mit der Bereitschaft zuzuhören.

      Neugierig und zum Zeitvertreib googelte ich deshalb verschiedene Namen. Es hat mich mehr und mehr irritiert, von den Doctores Tischler aus der Gamskogelstraße zu lesen, die Frau Dr. seit einem Jahr, dort mit Lebenslauf vorgestellt, in einer Zahnklinik in Eichenau aktiv. Die drei kleinen Tischlers fand ich so auch in den Ergebnislisten diverser Schwimm-, Schach- und Känguru der Mathematikwettbewerbe, sogar mit einem gemeinsamen Foto von unserem Kai und Ihrem Hubert, - ich war mir nur nicht ganz sicher, ob alle Tischlers zusammengehörten, obwohl die Vornamen und Geburtsdaten perfekt zusammenpassten. Wahrscheinlich hätte ich lieber jemanden gesehen mit einer x-beliebigen halbakademischen Ausbildung in einer kleinen Wohnung mit zwei Mädchen, über die nichts weiter zu finden gewesen wäre. Die Idee, dass in einem solchen Umfeld ein Wunsch auf Veränderung aufkommen könnte, irgendeine Störung vorliegen könnte, passte irgendwie nicht. Die gesamten Informationen ergaben das fast, bis auf den Arbeitsplatzwechsel, perfekte Klischee einer Bilderbuchfamilie.

      Letzte Zweifel werde ich nicht los, ob sich mein benebeltes Hirn völlig getäuscht hat, irgendetwas zusammengereimt und überbewertet hat, oder ob es irgendeinen verbindenden Umstand gegeben haben könnte, und, ob bewusst oder unbewusst aber sicher unbeabsichtigt, mir Signale übermittelt wurden, auf die ich definitiv heftig reagiert habe. Deshalb hab ich versucht, einen Kontakt herzustellen. Die intensive Auseinandersetzung mit meiner Reaktion hat geholfen, mir meine derzeitige eigene Situation zu reflektieren. Ich hoffe, jetzt wieder einigermaßen in der Spur zu laufen. Vielleicht spreche ich Sie in einem Jahr, in fünf oder zehn, wenn Sie womöglich mehr Zeit haben, nochmals auf ein mögliches Interesse am Triathlonsport an.

      Mit freundlichen Grüßen

      Paul

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt