Sippenmitglieder

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Sippenmitglieder

Die Sommerferien standen vor der Tür. Es sollte der letzte Besuch bei der Schwiegermama in Irland werden. Die wollte nur noch exakt bis zum Silvester dieses Jahres leben und sich wohl ein Jahr mit einer Unglückszahl ersparen. Zu den Tanis Eltern ließe sich auch noch ein längeres Kapitel verfassen. Hier im Moment nur so viel, dass es sich bei beiden um typisch irische „realy characters“ handelte, die mit ihrem jeweils ausgeprägten Eigenwillen meist permanent, zum Teil auch heftig, am Streiten waren. Bei einer ihrer ersten Reisen mit dem Nachwuchs fügte der seinem kleinen Wortschatz prompt ein paar aufgeschnappte, ihn beeindruckt habende Kraftausdrücke zu und gab diese auf der Rückreise zum Besten. Paul war wirklich etwas besorgt und drohte, ohne etwas mehr Zurückhaltung bei den Streitereien keine weiteren Besuche mit Nachwuchs bei den Schwiegereltern mehr vorzunehmen, was auch tatsächlich wenigstens einen kleinen positiven Effekt auf die Intensität der Streitereien bei künftigen Besuchen hatte.

Paul und Tanis Rohbau stand einige Wochen ohne irgendeinen Handwerker gesehen zu haben. Dafür füllte sich immer wieder der Keller des unbedachten Baus bei sommerlich heftigen Niederschlägen. Die Ziegelmauern im Keller sogen sich voll, das Wasser fing an zu muffeln. Um den Schaden zu begrenzen, war Paul immer wieder am Pumpen und am Wischen. Sein Interesse an Thea und ihren Lebensumständen war immer noch nicht völlig versiegt. Bei seinen vielen Pendelgängen zu seinem Rohbau, lernte er allmählich Theas ganze Familie kennen.

In den Pfingstferien hat wohl die Großmama aus einem der neuen Bundesländer den Hund betreut. Paul ist gerade im Begriff, mit seinem Bike in den kleinen Wald zwischen den Anliegergrundstücken zu pesen, da spricht ihn eine große, mittelalterliche Dame mit leicht sächsischem Akzent etwas erschrocken mit der Frage an, ob da noch ein Hund kommt. Nein, sagt er leicht belustigt, die Sorge konnte er sich schon erklären. Diese kleine Bestie hätte wohl besser an die Leine gehört. Das Hoppeln seines Hinterrads über die dicken Baumwurzeln muss in ihm die Jagdlust geweckt haben. Er schoss heftig bellend und böse knurrend, ähnlich wie vor einigen Wochen nur diesmal ohne Zaun zwischen den beiden, auf sein Hosenbein zu. „Gustav, das sind doch nur die Nachbarn“, kam von der Dame, von Paul ein nachdrückliches „ist ja gut“ und ein möglichst ruhiger aber rascher Rückzug aus dem erweiterten Revier des aufgebrachten Rüden.

Ein andermal fast an der gleichen Stelle kommt ihm auf dem schmalen Waldweg der komplette männliche Teil der Familie Thea entgegen: Vater, Sohn und Gustav. Um ungestreift passieren zu können, bleibt alles stehen, sich möglichst weit rechts haltend. Nur Gustav mag das anders, weicht im letzten Moment nach links aus und bringt Paul so zwischen sich und seine beiden Herren. Das bringt ihm zwar einen vorwurfsvollen Tadel des jungen Herrn ein, aber, da vielleicht schon an Paul gewöhnt, verläuft die Begegnung diesmal ohne weitere Aufregung. Im Gegenteil, der Familienvorstand, die Szene leicht amüsiert genießend, ruft ihm noch ein freundliches „Hallo“ zu. So kann Paul sich davon überzeugen, dass es sich um einen sehr sympathischen, humorvollen, ihm nicht so unähnlich jung gebliebenen Herrn handelt.

Wahrscheinlich wusste er entweder in dem Moment nicht, dass Paul seine attraktive Frau mit Emails traktierte. Womöglich haben die Tischlers aber auch noch ein so eng vertrautes Verhältnis untereinander, hatten sich, nicht anders wie er mit Tani, über seine ungewöhnliche Aktion ausgetauscht. Vielleicht handelt es sich bei dem von ihm angeschriebenen Email Account sogar um einen von der Familie Tischler gemeinsam genützten, so wie er es mit einigen von seinen inzwischen bald zehn verschiedenen Accounts auch mit Tani hält, selbstverständlich aber nicht mit der für diesen speziellen Informationsaustausch eingerichteten Email-Adresse. Falls letzteres zutraf, der Herr Dr. Tischler also eine Ahnung hätte haben können, hat er jedenfalls extrem souverän, selbstbewusst und humorvoll reagiert, so dass Frau Thea in sehr guten Händen vermutet werden konnte.

Einmal ist Paul wohl auch bei einer sonntäglichen Soloradtour zum Schwimmen im benachbarten See an der alleine in kraftvollem Laufstil an der Straße entlang stürmenden Thea, von hinten kommend, vorbeigedüst, ein andermal sieht er aus der Seitenstraße kommend ein joggendes Pärchen allerdings fast einen halben Kilometer entfernt, wobei es sich um die Eheleute Tischler gehandelt haben könnte, eher wieder ein Hinweis auf eine intakte Partnerschaft, aus der er sich tunlichst raushalten sollte.

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt