Kinderklinik

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Kinderklinik

 Im zweiten Grundschuljahr fingen allmählich wieder die Probleme an, seine Lehrerin Frau Musmann beklagte sich, Patrik verweigerte die Teilnahme am Unterricht, der Sportlehrer konnte ihn nicht unter Kontrolle halten. Die Schule bestand auf einer gutachterlichen Untersuchung, mit der Absicht, auf eine stationäre Unterbringung Patriks mit dort angeschlossener Beschulung zu dringen. Kurz, man war mit Patrik wieder einmal überfordert. Es folgten erneute psychologische Untersuchungen, in der HPT konnte man auch nicht so richtig verstehen, was das Problem ist. Man äußerte dort erstmals die Ansicht, Patrik könnte an einer Hochbegabung „leiden“, und womöglich auch deshalb sich mit Gleichaltrigen schwer tun, keine passenden Interessen, keinen angemessenen Umgang zu finden.

 In der Großstadt gab es eine renommierte Kinderpsychologische Klinik, hervorgegangen aus einem ehemaligen Max-Planck-Institut, das in einer halben Autofahrstunde zu erreichen war. Relativ schnell wurde wieder einmal unter Einbeziehung aller Beteiligten, Jugendamt, HPT, Schule, Eltern und Klinikleitung beschlossen, dass Patrik an dieser Klinik stationär für zunächst sechs Monaten untergebracht werden sollte. Je zwei Kinder bezogen ein Zimmer auf einer der vielen Abteilungen mit je acht Kindern und sehr viel Betreuungspersonal bestehend aus Pädagogen, Krankenpflegern, Ärzten. Tag und Nacht waren mindestens immer zwei Personen pro Abteilung anwesend.

 Es gab dort eine Schule, mit ganz kleinen Klassen, fast schon jeder Schüler individuell betreut. Der Kontakt mit dem Elternhaus war so geregelt, dass Patrik immer am Samstag in der Früh abgeholt werden, und am Sonntagabend wieder gebracht werden musste.

 Patrik tat sich einmal mehr extrem schwer, sich wieder in eine neue und dazu noch eine so eingeschränkte Umgebung einzufügen. Mit seinem Zimmernachbarn hat er sich wohl auch nicht vertragen, so dass er der einzige dort war, dem man auch noch ein Einzelzimmer zur Verfügung stellte. Aber auch Patriks Eltern vermissten trotz aller Querelen in dieser Zeit ihren Großen, Kai seinen Bruder. Alle freuten sich aufs Wochenende, hatten mit dem Abholen und Hinbringen aber auch noch ein ganz ordentlichen zusätzlichen Stress, den Patriks Eltern sich einvernehmlich aufteilten. Meistens holte Patriks Papa ihn samstags in der Früh, verknüpfte die Tour mit wöchentlichen Besorgungen im Supermarkt, Tani brachte ihn Sonntag am Abend wieder zurück.

 Hier ein kurzes Schlaglicht zur Charakterisierung der Klinikzeit. Die ersten Monate waren vergangen. Das Weihnachtsfest rückte näher. In Pauls damaligem Arbeitsverhältnis gab es zum Jahreswechsel immer eine traditionelle zweiwöchige Arbeitspause, von Heiligabend bis zum Drei-Königstag. Paul hätte sich in der Zeit also gut um Patrik kümmern können, hatte sich auch darauf eingestellt.

 Die Klinik hatte aber ihr starres Schema mit der Betreuung  am Wochenende durch die jeweiligen Familien und mit einem optionalen Besuchsnachmittag an jedem Mittwoch. Dieses Schema wollte man dort auch über die Weihnachtszeit keineswegs durchbrechen. Ob hier wirklich nur im Wohl des Kindes agiert wurde, oder ob es nicht vielmehr auch um finanzielle Interessen, die Auslastung der Klinikplätze und damit die entsprechenden, den Kassen zu stellenden Rechnungen ging, bleibt offen.

 Paul blieb also nichts anderes übrig, als an den beiden Mittwochtagen nachmittags ein den beiden Jungs gemäßes Programm aufzustellen und den Großen am Abend wieder in seine Klinik einzuliefern. Es war kalt, es lag Schnee, das Wetter war nicht ganz übel. Einmal suchten sie sich in der Nähe einen Ski- und Schlittenhang, mit einem Ausklang am Abend im „Lari Fari“, einer zu einem Erlebniszentrum ausgebauten ehemaligen Turnhalle. Am zweiten Nachmittag machten sie sich in den vereisten Zoo auf, in welchem auch ein großer Erlebnisspielplatz mit Kletterturm angelegt worden war. Die Jungs hatten Spaß, kamen auf ihre Kosten.

 Das Problem kam mit dem Abschied von Patrik am Abend vor der Klinik. Patrik weigerte sich, das Fahrzeug zu verlassen. Paul konnte ihn so gut verstehen. Es brach ihm das Herz, er könnte heute noch weinen, seinen Sohn mit allen Überredungskünsten und mit sanfter Gewalt in sein Zimmer bugsieren zu müssen. Im Grunde hatte Patrik so recht, die Ferien mit seiner Familie verbringen zu wollen. Es hätte nicht viel gefehlt, und Paul hätte ihn einfach mitgenommen, vielleicht wäre es besser gewesen, vielleicht hätte die Klinik aber auch die Behandlung wegen mangelnder Kooperation der Eltern abgebrochen, mit entsprechend schlechten Karten bei künftigen Verhandlungen über Patriks weiteres Schicksal.

 Zum Weihnachtsfest wurde ein großer Baum im Foyer der Klinik aufgestellt, an den jedes der Kinder ein Kärtchen mit seinen Wünschen hängen konnte. Patrik wünschte sich, dass er bald wieder nach Hause kann, und dass sein kleiner Bruder bald älter werden würde, so dass er mit ihm mehr unternehmen kann.

 Die Zeit in der Klinik ging irgendwann zu Ende. Dem sahen seine Eltern mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits wäre es schön, diese ewige Wochenendbeziehung zu ihrem Sohn und Bruder beenden zu können, andrerseits wurde ihnen in der Klinik nahe gelegt, und dies auch so im entsprechenden Abschlussgutachten formuliert, eine so genannte Fremdunterbringung, auf gut deutsch ein Heim, für Patrik zu suchen. Dort wäre er erstens noch weiter weg, eine Kreisstadt in einem anderen Bezirk oder gar Heime in anderen Bundesländern waren im Gespräch, und sie würden ihn folglich noch weniger sehen. Bestenfalls vierzehntägig, dann an größtenteils mit langen Bahn- oder Autofahrten verbrachten Wochenenden.

 Die Informationen der Ärzte und Betreuer waren schon sehr widersprüchlich. Einerseits hieß es ständig, Patrik mache Fortschritte durch entsprechende Therapien, O-Ton einer seiner Ärztinnen, „Hier in der Klinik ist ständig Therapie, auch wenn das nicht den Eindruck macht und man das nicht ohne weiteres sieht.“ Auch medikamentöse Therapien gehörten dazu, unter das BTM (Betäubungsmittelgesetz) fallende, mittlerweile fast schon allgemein bekannte Wirkstoffe wie Methylphenidat, Ritalin wurden in ihrer Dosierung getestet. Mit Sorge konnten seine Eltern bei deren Besuchen gelegentlich beobachten, wie Patrik, der immer sehr lebhaft, und sicher oft überschießend war, dort manchmal fast einen apathischen Eindruck machte. Bei so großen Fortschritten und einer passenden Medikamentierung sollte doch ein Heim vermieden werden können.

 Hier leisteten seine Eltern einmal echtes Teamwork. Tani sprach mit der Führung seiner früheren HPT, für Patrik dort wieder einen Platz zu finden. Paul bettelte den Leiter seiner letzten Schule an, es noch mal mit Patrik zu versuchen. Er redete dort auch mit der neuen Lehrerin, um ihr die Situation zu erklären und zur Klärung für zu erwartende, aufkommende Schwierigkeiten schon einmal einen Draht zu haben. Sie erreichten jeweils Zustimmung mit Auflagen. Ein erfahrener, kurz vor dem Ruhestand stehender Kinderarzt, der Patrik schon einige Zeit für Routineuntersuchungen betreut hatte, und der ihnen anfangs für die von da ab regelmäßig, für insgesamt sechs Jahre zu besorgende BTM-Medikamente die zweimal im Monat notwendigen Rezepte ausstellte, beglückwünschte sie zum Erhalt ihres Buben in der Familie mit den Worten: "Das haben Sie gut gemacht, in den Heimen werden diese Kinder nur weggesperrt".

Nachdem sich das Klinikgutachten eher als Hinderungsgrund erwiesen hatte, eine Lösung für ein Betreuung von Patrik in der Familie zu finden, drängte Paul auch dort darauf, den Satz mit der empfohlenen Fremdunterbringung zu ändern mit der Begründung, dass der Betreuungsaufwand für Patrik zweifellos oft beträchtlich und kräftezehrend sei, aber gerade deshalb von niemand anderem als den eigenen Eltern mit derselben Motivation geleistet werden könne.

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt