Charaktere in der Ehe

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Charaktere in der Ehe

Kurz drauf kam die Nachricht der schweren Erkrankung von Pauls Schwester. Es dauerte noch bis Ostern, dann war er endgültig wieder mit Tani zusammen. Nach diesen beiden Unterbrechungen waren die beiden schließlich soweit, den Beschluss zu fassen, letztendlich dauerhaft beieinander bleiben zu wollen und nach nunmehr fast acht Jahren gegenseitiger Prüfung sich auch auf das größte Wagnis der Familiengründung gemeinsam einzulassen.

Den Tod seiner Schwester begleiteten sie gemeinschaftlich. Letztendlich waren es womöglich berufliche Gründe, eine unbeliebte Chefin, die Tani schließlich bewogen, mit dem Gedanken an eine per Babypause begründete Auszeit von der ihr als unangenehm empfundenen Büroarbeit zu spielen. Im Jahr drauf kam Patrik zur Welt, am Ende des nächsten Jahres nach aufreibender Still-, Wickel-, und Tagesmuttersuchezeit wurde ihre Verbindung auch vom Standesamt besiegelt.

Bei einem ihrer schon bald nach dem Kennenlernen begonnenen und nunmehr seit rund zwanzig Jahren regelmäßig absolvierten Irlandbesuche lernte Paul, dass Eigenwilligkeit dortzulande als absolutes Charakterqualitätsmerkmal gilt und dort auch gerne kultiviert und toleriert wird. Man denke auch an die recht eigenwilligen Literaten George B. Shaw oder James Joyce. Eigenwilligkeit mag zwar durchaus ihren Reiz haben. Beim Zusammentreffen von zu viel davon kann sie aber einem harmonischen Miteinander so stark im Wege stehen, dass sowohl die Träger eines solch starken Willens als auch deren Umfeld an sich selber und aneinander zu leiden beginnen. Tani war kein einfacher Mensch, aufbrausend, nervös, ungeduldig, litt unter chronischen Schlafmangel, hatte gelegentlich durch Hyperventilieren ausgelöste Angstzustände und versuchte auch bereits, sich dagegen behandeln zu lassen.

Pauls eigene Psyche hat mit Sicherheit schon in der Jugend einige Kratzer abbekommen. Er stellte in letzter Zeit oft selbst relativ starke Stimmungsschwankungen fest. Meist schaute die Welt zwar nach einer gut ausgeschlafenen Nacht wieder recht rosig aus, es gab aber schon auch manchmal Tage, an denen er sich erschöpft und antriebslos fühlte, und erst nach einer dann immer wieder gesuchten und einigermaßen bestandenen Herausforderung kippte seine Stimmung wieder in die entgegen gesetzte Richtung, was auf sein Umfeld oft stark irritierend wirkte. Dieses Schwanken zwischen Polen kannte er aber schon aus seiner Jugend von seiner Schwester und seiner Mutter. Für ihn gehörte dies Verhalten zur normalen emotionalen Reaktion auf äußere Ereignisse, frei nach einem Zitat aus einem Bogey-Film: „Für eine Frau ohne Gefühl gebe ich keine zwei Cent.“

Dass die Eheleute Paul und Tani sich zur Verbesserung ihrer familiären Situation Hilfe von außen holen mussten, hatte Paul in Patriks Geschichte schon erwähnt. Nach der Episode mit Tanis Fitness-Bekanntschaft unternahmen sie einen weiteren Vorstoß in diese Richtung. Wieder fanden sie einen erfahrenen sympathischen Herrn, einen Dr. theol. Betzenburger aus Falkenberg, dem sie sich einige Male vorstellten. Genau dort gab Paul den Spruch von sich in einer modifizierten Variante: „Der Herrgott hat mir zwar kein leichtes …, aber …“ ohne damals schon die möglichen Folgen eines übermäßigen Drucks zu geahnt zu haben.

In der Nochnachkriegszeit, Ende der fünfziger- anfangs der sechziger Jahre, spielte die Kirche noch eine sehr viel größere Rolle, als sie dies heute tut. Mangels Alternative ging man sonntags noch häufig in die Kirche, die Kinder waren betreut. In ganz jungen Jahren ist man für dort Erzähltes meist sehr offen, mangels Lebenserfahrung unkritisch, ein natürliches Bedürfnis nach einer integrierenden Instanz kommt hinzu.

Ethische Fragen haben Paul sein ganzes Leben beschäftigt. Er fühlte sich immer privilegiert als einer, dem viel in die Wiege gelegt worden war, zählte sich zu den Seinen, denen der Herr es im Schlaf gibt. Tatsächlich setzten sich oft Begebenheiten, die ihn intensiv beschäftigten, in seinen Träumen fort und fanden dort gelegentlich auf wundersame Weise eine Lösung. Nach der Schule spielte er einmal kurz mit dem Gedanken an ein Theologiestudium, verwarf die Idee aber mit der Einsicht, eine der Allgemeinheit nützliche Lebensleistung eher in einem Bereich erbringen zu können, wo seine naturwissenschaftlichen Interessen und seine Begabung zum Verständnis komplexer Zusammenhänge zum Tragen kommen würden, ohne jemals auf die Beschäftigung mit den jeder Religion zugrunde liegenden Fragen des Lebens wie dem Woher, Wohin, Wie, Warum und Wozu zu verzichten.

Wenn er sein Hirn marterte, fand er einige wenige Situationen in seiner Kinder- und Jugendzeit, in denen er sich in eine Außenseiterposition begab, im Kindergarten, als Paul, nachdem die Schwester schon in die Schule ging, sich alleine behaupten musste, als er schließlich selbst in die Schule kam, anfangs in Klassen mit bis zu sechzig Schülern. Weil er zuhause, parallel zu seiner Schwester, bereits lesen und rechnen gelernt hatte, waren diese ersten Schuljahre für ihn eine reine Stillsitz- und Schönschreibübung. Die versuchte er oft durch Bemerkungen zu den Banknachbarn aufzulockern, was ihm häufige Tatzen, Schläge mit einem Stock auf die Handfläche, dem damaligen Mittel zur Wahrung der Disziplin, einbrachte.

Ob er durch auf ihn lastenden Druck so weit aus der Realität fliehen wollte und geflohen war, dass er sie nicht mehr erkennen konnte, daran hatte er tatsächlich leichte Zweifel. Waren seine Beobachtungen wirklich reine Einbildung, oder hatte er sie nur falsch interpretiert. Wie dem auch sei, das Suchen einer Selbsthilfegruppe für Familien mit psychischen Problemen schien ihm absolut angezeigt. Eine Großstadt vor der Türe bietet hier Vorteile. Ein paar Surfeinlagen und ein paar Telefonate, dann hatte er von da an einen regelmäßigen Termin einmal im Monat in einer zu ihm passenden Gruppe. Dort anzutreffende Menschen und Schicksale sind in jedem Fall faszinierend, manchmal erschütternd, in jedem Fall bereichernd, die eigene Situation einerseits relativierend aber auch durch Parallelen besser erklärend.

Ganz wichtig war ihm aber auch, dass er einmal mehr auch diese ganze Geschichte Tani beichtete und ihr auch die Emails zugänglich machte. Er war der Überzeugung, dass sie wieder aufeinander zugehen sollten, sich wieder mehr umeinander kümmern sollten, das Kriegsbeil begraben, einen neuen Anlauf, einen Neuanfang versuchen sollten. Es gab wieder lange Gespräche, sie unternahmen mehr zusammen, versuchten freundlicher miteinander umzugehen. Dass er in dieser Zeit heftig um die Kontrolle über seine Emotionen kämpfte, dazu einiges in die Wege leitete und auch erste Fortschritte zeigte, eine Perspektive, keine so schlechte Prognose hatte, war unverkennbar.

Trotzdem, so schnell konnte er seine Bilder nicht verdrängen. Der Wunsch und die Spannung, Thea zu sehen, wollten sich nicht so schnell legen. So ganz überzeugt, was für eine Einstellung Madame ihm tatsächlich entgegenbringt, war er immer noch nicht, wenn er auch bei den gemeinsam wahrgenommenen Trainingsterminen, ähnlich wie sie übrigens, jeden näheren Kontakt, selbst Blickkontakt, eher mied.

Natürlich hatte er keine besonderen Ambitionen mehr, aber ein kleines, kurzes Interview hätte Thea ihm ja wohl gewähren können, so dachte er gelegentlich. Ein gutes Dutzend mehr oder weniger unverfänglicher Small-Talk-Themen hätte es sicher gegeben. Vielleicht war das nach diesen Emails nicht mehr möglich, vielleicht hätte es aber auch geholfen, einen normalen, entspannten Umgang zu pflegen.

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt