Kieselspiele

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Kieselspiele

        In der Querstraße von Paul und Tanis damaligem Wohnsitz, unmittelbar um die Ecke, gab es einen ganz netten, kleinen Kinderspielplatz mit den üblichen Klettergeräten, Rutsche, Schaukel, Sandkasten, ein kleines Karussell, eine Tischtennisplatte, Bänke zum Sitzen in der Sonne oder im Schatten. Weil so nah und ganz ansprechend gestaltet, mit Bäumen einem kleinen Wäldchen, einem städtischen, aber nicht öffentlich zugängigen, benachbarten Park, suchten sie diesen Spielplatz regelmäßig auf. Patrik hätte auch Gelegenheit gehabt, mit anderen Kindern im Sand zu spielen. Am meisten interessierten ihn wohl das Karussell und das Klettergerüst mit der Rutsche. Sein Ziel war wohl, eines Tages auf dessen Dach zu steigen und dann dort herunter zu springen, was er dann ein paar Jahre später auch immer auf allen von seiner Familie besuchten Spielplätzen an den dort befindlichen Klettergerüsten vorführte, bevor er das Interesse an diesen Plätzen verlor. Seine Eltern zogen mit ihm und irgendeinem Lesestoff los, setzten oder legten sich in die Sonne und ermunterten oder bremsten ihren Sprössling, je nach Notwendigkeit, bei seinen Erkundungen und Unternehmungen.

Eines Tages, Patrik spielte auch gern mit dem Kies, in den das Schaukelgestell gebettet war, steckte er sich von den perlenartig runden Kieselsteinen, von denen einige perfekt in seine kleinen Nasenlöcher passten, zwei davon genau dort hinein. Was  ihn dazu veranlasst hat, wissen die Götter. Kleinkinder untersuchen immer alles, was sie in die Finger bekommen können, gerne auch mit dem Mund und trainieren dabei ihr Immunsystem. Patrik meinte wohl, das könnte zur Abwechslung auch mal durch die Nase ausprobiert werden. Kiesel mit Finger in die Nase schieben war einfach, wieder rausziehen schon sehr viel schwieriger, und irgendwann fühlten die dort stramm sitzenden Kiesel sich wohl auch leicht unangenehm an. Patrik wandte sich Hilfe suchend an seine Erzeuger. Schon mit dem Bild im Kopf vom Sanka zum Notarzt, versuchten die, ihm das freie Nasenloch zuzuhalten und ihm begreiflich zu machen, jetzt kräftig durch die Nase auszuatmen. Vom natürlichen Reflex, von der in dem Fall, im Gegensatz zu im sozialen Bereich kritischen Situationen, instinktiv richtigen Reaktion unterstützt, schoss der Kiesel pneumatisch abgefeuert aus seiner Nase.

Bei andrer Gelegenheit wieder beim Kieselspiel, alles schien im Griff, Paul konnte seine Aufmerksamkeit kurzfristig wieder mehr seiner Lektüre widmen, spürte er plötzlich von hinten einen schweren, schmerzhaft harten Schlag auf seinem Kopf. Zwar leicht betäubt aber augenblicklich mit Adrenalin vollgepumpt, um der plötzlich drohenden Gefahr zu begegnen, sprang er sich dem Angreifer zuwendend auf - und sieht den kleinen Patrik den größten Kiesel, den er gefunden und eben noch tragen konnte, aus seinen beiden Händen im selben Augenblick fallen lassend, interessiert, nicht unfreundlich, Pauls heftige Reaktion verfolgend.

Paul war schockiert. Wollte der Kerl seinen Vater umbringen, oder einfach nur testen, was härter ist, Kiesel oder Schädel, ohne sich beim Versagen des Schädels über dessen Konsequenzen im Klaren zu sein? Paul war natürlich stinksauer, war sich aber nicht ganz im Klaren, wie er diesem knapp zweijährigen, gerade laufen könnend aber kaum sprechenden Wesen beibringen sollte, sozusagen sachlich in aller Ruhe zu erklären, dass man nicht alle spontanen Einfälle unbedingt in die Tat umsetzen sollte, dass es sich bei seiner Reaktion um keinen Freudentanz handelte. Nun, Patrik hat es bei Paul zumindest nicht wieder versucht, aber Paul konnte sich jetzt ausmalen, welchen Konfrontationen seine fremden Betreuer ihm manchmal gegenüber standen, und warum er und Tani als Eltern dann häufig zu deren heftigen Reaktionen Stellung nehmen mussten.

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt