Jugendliche Prägungen

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Jugendliche Prägungen

Mit dem letzten Email hatte Paul seine Emotionen nahezu restlos ausgebreitet und weiterhin eine ganze Reihe, die Entstehung seiner Gefühlslage erläuternden Andeutungen gebracht, wie die beispielsweise zu seiner Mutter, seiner Schwester und zu Kontrasten.

Paul wuchs seine komplette Kindheit und seine Jugend mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Dietlind auf. Dietlind hat sich während seiner Kindheit fast mütterlich um ihn gekümmert. Es gab hunderte Fotos aus dieser Zeit, gemeinsam auf einem Dreirad, auf einer Schaukel, Hand in Hand auf diversen Ausflügen. Die beiden waren einander zugetan, hatten immer ein sehr gutes Verhältnis, steckten viel zusammen. Seit Pauls Schulzeit fuhr seine ganze Familie im Sommer regelmäßig einen ganzen Monat fast immer mit der Familie von Pauls Onkel in südliche Länder. Dort machten Dietlind und er zusammen Bekanntschaften, die teilweise Jahrzehnte überdauerten.

Haar- und Augenfarbe hatte Dietlind mehr von ihrer Mutter geerbt. Das Mutter-Tochter Verhältnis war ähnlich Pauls zur Mutter nie ganz spannungsfrei. Zwar von Stolz aber wohl auch von Neid um der Tochter unbeschwerte, der Mutter aber kriegsbedingt verwehrte Jugend geprägt, gab es häufig Konflikte um Ausgehzeiten, Haar- und Kleidertracht. Dem Wunsch nach mütterlicher Kontrolle wollten sowohl Dietlind als auch Paul immer wieder entfliehen. Beide mussten sie um ihre eigenen Wege kämpfen, es gab Verluste auf beiden Seiten.

Dietlind wurde eine sehr attraktive Frau. Sie hatte zahllose Verehrer, lustigerweise sogar einmal einen von Pauls Lehrern, der sie nur zufällig einmal eher aus der Ferne zu Gesicht bekommen hatte. Dichte, lange, blonde Haare, dunkelblaue Augen, harmonische Figur, ein ebenmäßiges, ovales Gesicht, meist fröhlich, gutgelaunt, lebhaft, natürliches Selbstbewusstsein.

Selbst nach ihrer Hochzeit unternahmen die Geschwister immer noch viel auch mit Dietlinds Ehemann zusammen, und als Dietlinds erster Sohn geboren wurde, war Paul selbstverständlich dessen Pate. Erst als es ihn berufsbedingt in andere Bundesländer verschlagen hatte, und er langsam anfing, sich vom Elternhaus abzusetzen, wurden auch die Kontakte zur Schwester seltener. So selten, dass er und wohl auch sonst keiner seiner Familie erkannte, wie die Situation seiner Schwester langsam in eine Schieflage geriet. Sie hatte mit der Erziehung ihrer inzwischen beiden Jungs zwar eine erfüllende Aufgabe. Als gelernte Erzieherin hatte sie bereits zahlreiche fremde Kinder in deren ersten Kinderjahren begleitet. In ihrer Beziehung zu ihrem Mann, mit dem sie zusammen mit dessen Eltern in deren Mehrfamilienhaus im Nachbarkreis, nicht weit von Pauls Elternhaus lebte, hatte offenbar eine Entfremdung eingesetzt, die Dietlind stark belastete.

Paul und seine Mutter sind der festen Überzeugung, dass Dietlinds Verzweiflung so groß war, dass sie einen Großteil ihrer Lebensfreude verlor, und ihre Lebenskraft davon aufgezehrt wurde. Obwohl sie regelmäßig bei Vorsorgeuntersuchungen, nie mit irgendwelchen Befunden, war, teilte Dietlind ihren Eltern und Paul eines Tages mit, dass bei ihr Brustkrebs mit Metastasen in Wirbeln, Schädelknochen und Leber diagnostiziert worden waren. Nach Brustoperation und noch während der begonnenen Chemotherapie fiel sie ins Koma und verstarb.

Der Tod von Dietlind riss bei Paul eine Wunde, die trotz der fünfzehn Jahre, die seitdem vergangen sind, nie ganz verheilte. Kurz drauf wurden seine Jungs geboren, das lenkte ab. Dass die nie ihre Tante kennenlernen konnten, und dass auch der Kontakt zu ihren Vettern immer spärlicher wurde, schmerzte ihn. In den vergangenen 20 Jahren hatte es nicht einen einzigen gegenseitigen Besuch zwischen Pauls Familie und der seiner verstorbenen Schwester gegeben. Wenn sie sich trafen, dann bei seinen Eltern und das immer seltener, noch nicht einmal jedes Jahr.

Pauls Interesse am Kontrast zur gewohnten Haar- und Augenfarbe gab es wirklich. Die Dunkelhaarigen, rot- oder braunhaarigen hatten es ihm angetan, das Interesse beschränkte sich aber meist auf den bloßen Augenschein. Richtig verschossen war er dann doch eher wieder in ihm Vertrautes. Eine Klassenkameradin, Hermine, äußerlich fast eine Kopie seiner Mutter in jungen Jahren, war jahrelang Favoritin, hätte auch eine Schwester von Thea sein können, selbst die helle Stimme war ähnlich.

Um die allgemein begehrte Hermine hatte Paul sich damals jahrelang bemüht. Einige Male brachten er und seine Freunde es fertig, die Mädchen auf ihren Mopeds zum Schlittschuhlaufen auszufahren. Es gab einige Gelegenheiten sich bei Schulausflügen, Kulturveranstaltungen näher zu kommen. Hermine war auch keineswegs abgeneigt, im Gegenteil. Bei einem der Theaterbesuche arrangierte sie Paul und sich benachbarte Sitzplätze und zeigte sich auf ihn damals wie manchmal auch heute noch verwirrende Weise sehr entgegenkommend. Letztendlich war er wohl in seiner persönlichen Entwicklung, so weit hinter den ihnen in der Beziehung weit fortgeschrittenen gleichaltrigen Mädchen zurück, dass sie keine echte Chance hatten, näher zueinander zu finden. 

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt