Abgesang

15 0 0
                                    

Abgesang      

Pauls letztes Email war so etwas wie ein Abgesang. Eine Antwort kann gegeben werden, muss aber nicht. Etwas Spannung darf sein, hat aber nur noch das Niveau eines normalen, kleinen Flirts unter eher flüchtigen Bekannten. Paul schlug noch einmal den Bogen über das Jahr. Die Startsprungübung wurde zum vorübergehenden Leckverschluss atmender Illusionen. Dadurch, dass er der Geschichte eine etwas andere Deutung gab, hatte er sich vom Wurf in den Schmutz mit dem Canossa Email wieder hochgerappelt, den Staub abgeklopft und über die kaum noch zu erkennenden Kratzer beruhigt.

Die Herz- und Seelenschmerzen waren handfesten Schmerzen mit nachhaltigen Konsequenzen gewichen. Mitten im Januar an einem der kältesten Tage im Jahr wurden die Garagen geliefert. Mit den Garagen gab es eine neue Schwierigkeit. Der Grundriss von Haus und Garage war so ausgezirkelt, dass die Doppelgarage genau zwischen Haus und Nachbargarage passen musste. Die Nachbargarage hatte eine recht grob, uneben gemauerte Außenwand. Außerdem war ihr Flachdach im Laufe der Jahre mit Dachpappe immer wieder neu gedeckt worden, so dass von dieser nun fünf bis sechs Lagen übereinander, bei Frost unter minus fünf Grad beinhart gefroren, in den Luftraum von Pauls Grund hineinragten, und beim Platzieren seiner Garage im Weg waren. Mit Axt und Vorschlaghammer bewaffnet kletterte Paul auf das Dach und beseitigte den Überstand, um nicht zu riskieren, dass der Lieferant ein zweites Mal anrücken musste. Im Eifer des Gefechts blieb er bei seinem wiederholten Auf- und Absteigen einmal, mit dem Bauch schon auf der Dachkante liegend, mit der Kleidung an einem Ast der Buchenhecke des Nachbars hängen.

Paul konnte sich nur so befreien, indem er mit beiden Händen nach hinten griff, um die Hose vom Ast zu lösen, und dabei sein ganzes Gewicht auf der kurzen Rippe auf der Dachkante lastete. Die Rippe hat dabei wohl einen Knacks bekommen, der zuliebe er einige Wochen sein gewohntes Sportprogramm reduzieren musste, und die ihm auch den entspannten Schlaf etwas erschwerte. Die Rippe war gerade so verheilt, da ereilte ihn wenig später vor dem PC sitzend bei einer ruckartigen Bewegung ein Hals-Schulter-Syndrom, das ihn nochmal, sogar weit länger und umfassender als die Rippe, in seiner Mobilität beschränkte. Der jahrelange Stress mit dem Haus, der dabei oft geleistete körperliche Einsatz, Grube erweitern, Rohbau- Material umlagern, Dachstuhlbalken auf Garage wuchten, Möbel ab- und aufbauen, schleppen, Löcher in Betondecken bohren für Lampen und Vorhänge, hatte hier einmal mehr Tribut gefordert. Ein kleiner Leistenbruch lässt sich wohl auch auf diese ungewohnten Belastungen zurückführen. Das Schwimmen machte mit der Rippe zunächst beim tieferen Atmen leichte Probleme, mit dem Hals-Schulter-Syndrom zogen nach wenigen schneller durchschwommenen Metern Schmerzen vom Nacken ausgehend, über die Schulter in den Arm bis in die Hand hinein ausstrahlend.

Eher zufällig hatte Paul sich zu Weihnachten eine Monoflosse besorgt, die ihm gerade recht kam, da er mit der auch ohne Armeinsatz ganz ordentlich schwimmen konnte. Leider geriet er durch den Einsatz der Flosse mit einzelnen seiner Mischwimmer aneinander. Dies ging soweit, dass man ihm den Gebrauch der Flosse komplett untersagen wollte, was zu einer anderen kleinen Episode führte, zu der wir im nächsten Kapitel noch ein paar Details beisteuern können.

Dieses "Ach, lass mich …" ging damals an die junge Elara. Paul hatte es sich mit Beginn des Studiums angewöhnt, mit Kommilitonen, später auch mit Mitschülern eines jüngeren Cousins in der ersten oder zweiten Januarwoche nach Frankreich zum Skifahren loszuziehen. In einem der letzten Jahre dieser Touren mit seiner Beteiligung war eine noch sehr junge Dame mit von der Partie, die, wie später ein anderer Teilnehmer berichtete, eine Zeit lang zu den meistbegehrten Mädels ihres Gymnasiums zählte. Es blieb nicht aus, man sitzt sieben Tage sehr eng aufeinander, lernt sich kennen, zeigt Interesse. Meistbegehrt kann man nur werden, wenn man sich möglichst verbindlich gegenüber allen und jedem zeigt, und dennoch unverbindlich bleibt.

 Die junge Dame wickelte sozusagen einen nach dem anderen, Paul eingeschlossen, um den Finger. Irgendwann wurde ihm dieses Hin- und Her- Springen dann zu viel und er wollte, wenigstens eine Zeit lang, seine Ruhe haben. Aber wie es so geht mit Emotionen. Gerade die Heftigkeit seines damaligen Ausbruchs zeigte der jungen Dame seine starke Involviertheit. Sie war wirklich sehr erschrocken, meinte er sei „knallhart“. Paul entschuldigte sich quasi noch im selben Augenblick für den Ausbruch, gab ihr zu erkennen, dass er wieder einmal von Emotionen gepackt war, in deren Griff es schwer fällt, distanziert zu bleiben, was man zwar auch nicht sein will, dass sie ihn dadurch aber nach Belieben in der Hand hat. Es ist dann dem anderen gegenüber nicht ganz fair, einen solchen Zustand hervorzurufen, im nächsten Moment sich wieder gleichgültig zu zeigen, oder so zu tun, als ob man sich seiner Wirkung nicht bewusst ist.

Pauls Midlife Crisis / zeitlose Leiden des fast jungen W.  / Emotion und Verstand - Gleichklang oder GegensatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt