Teil 1

2.7K 23 0
                                    

Sophie:

Ich geniesse meinen wohl verdienten Feierabend heute auf der Couch und zappe etwas durch die Sender. Doch es gibt keinen Film, der mich so richtig packt. Auf dem Sportkanal bleibe ich hängen, sie übertragen gerade einen Volleyballmatch der obersten Herrenliga. Ich bin selber begeisterte Volleyballspielerin, spiele zwar keine Meisterschaft mehr, mache aber immer noch bei zwei Plauschteams mit, wo ich dank meiner Erfahrung noch gut mithalten kann.

Doch, was ich hier sehe, spielt natürlich wortwörtlich in einer anderen Liga. Ich staune immer wieder, welche Schlaghöhe die Typen erreichen und wie sie den Ball beschleunigen können. Die Angreifer sind durchs Band um die zwei Meter gross oder darüber und bewegen sich dementsprechend zwar durchaus effizient, aber eben recht schlaksig. Dies gilt natürlich nicht für die Zuspieler und Liberos, aber den Angreifern sieht man ihre Grösse an den Bewegungen an.

Nur ein Spieler - es ist ein Aussenangreifer - bewegt sich total geschmeidig, ja fast anmutig zwischen den grossen Teamkollegen. Irgendwie kommt mir sein Gesicht bekannt vor, aber ich kann ihn nirgends einordnen.

Ich bin übrigens Sophie Marchand, von Beruf Ärztin mit einer eigenen Praxis in einem grösseren Dorf auf dem Land. Seit fünfzehn Jahren schon arbeite ich jetzt da, und die Arbeit gefällt mir immer noch und füllt mich aus, vor allem, nachdem mein Mann und ich uns vor einigen Jahren getrennt haben. Es war eine Trennung im gemeinsamen Einvernehmen, Kinder haben wir zum Glück keine. Er hat seit einiger Zeit wieder eine Partnerin, aber ich bin seither alleine geblieben. Trotzdem bin ich ganz zufrieden mit meinem Leben und eben auch mit meinem Job.

Im Fernsehen schlägt gerade ein Spieler der einen Mannschaft den gegnerischen Block an, der Ball prallt daran ab und springt weit nach hinten. Der Libero kommt noch an den Ball ran, kann ihn aber nicht mehr kontrollieren. Ein zweiter Verteidiger rennt dem Ball hinterher, macht einen Sprung über die Banden und kann den Ball in der Luft zurückspielen, so dass die Mannschaft ihn ins gegnerische Feld zurückbringt. Die Gegner bauen einen Spielzug auf, doch der Block ist diesmal erfolgreich und bucht den Punkt für sich. Das Publikum feiert die Mannschaft frenetisch.

Die Kamera schwenkt wieder zum zweiten Verteidiger zurück. Der liegt immer noch am Boden und hält sich den Kopf. Der Physiotherapeut ist bereits bei ihm und betreut ihn. Beim näheren Hinsehen erkenne ich meinen "Lieblingsspieler", der eine Schramme am Kopf hat und leicht blutet. Er wird ersetzt und muss wohl ärztlich betreut werden. Ich hoffe für ihn, dass er keine Gehirnerschütterung davon getragen hat. Müde stelle ich den Fernseher ab und mache mich auf den Weg ins Bad.

Yacine:

Nun liege ich hier im Notfall der Uniklinik und warte auf den behandelnden Arzt. So ein Mist, ich habe bei meinem Sprung über die Banden übersehen, dass gleich dahinter ein Stuhl stand, an dem ich meinen Kopf recht unsanft angeschlagen habe. Der tut nun ziemlich weh, ausserdem habe ich eine Wunde am Kopf, die eventuell genäht werden muss.

Während ich so alleine dasitze und warte, erinnere ich mich an eine ähnliche Situation aus meiner Kindheit. Ich hatte mir ebenfalls den Kopf gestossen und eine Platzwunde davongetragen. Auch da wartete ich alleine (ich war schon etwas grösser, neun oder zehn vielleicht) im Wartezimmer auf meine Hausärztin. Ich habe sie heimlich verehrt und freute mich - trotz der Schmerzen - über den Unfall, weil er mir die Gelegenheit gab, sie wieder zu sehen. Sie war immer sehr freundlich zu mir und hat sich jeweils viel Zeit für ihre Patienten genommen - jedenfalls für mich, ich weiss nicht, ob das bei allen so gewesen ist.

Auch jetzt fühle ich mich ziemlich allein und verlassen und hätte gern einen vertrauten Menschen wie sie um mich gehabt. Ich nehme mir vor, sie mal wieder aufzusuchen und google ihren Namen.

Dr. Sophie Marchand und Yacine VincentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt