Yacine:
Ich habe tief und fest geschlafen und erwache erst, als sich ein paar Sonnenstrahlen den Weg in mein Zimmer gebahnt haben. Ich fühle mich erholt wie schon lange nicht mehr. Als ich auf meine Uhr schaue, erschrecke ich: Es ist bereits elf Uhr! Kein Wunder, bin ich so erholt. Weil ich mich gerade so wohl fühle, bleibe ich noch etwas liegen und lasse die letzten Tage Revue passieren.
Die letzten beiden Wochen waren geprägt von anstrengenden Trainings und kräftezehrenden Matches. Noch gestern habe ich extra früh ein individuelles Training absolviert, um nachher gleich nach Paris fliegen zu können. Die Motorradfahrt habe ich mir eigentlich etwas entspannter vorgestellt, mir tat der Hintern schon weh, als ich hier angekommen bin. Und dabei habe ich mich gefreut. Auf Sophie. Ich konnte es kaum erwarten, sie wieder zu sehen. Auch, wenn ich mir bewusst war, dass ich mich einer intimen und zeitweise etwas unangenehmen Behandlung unterziehen musste. Oh Mann, selbst darauf habe ich mich gefreut, nur, weil sie bei mir sein und mich behandeln würde.
Während ich so in Gedanken versunken bin, klopft es leise an meine Tür. "Ja? Komm nur rein", antworte ich. Sophie streckt ihren Kopf zur Tür herein und meint mit einem verschmitzten Lächeln: "Ich wollte nur mal sehen, ob du schon wach oder immer noch komatös am Schlafen bist." "Ich habe wunderbar geschlafen, danke", antworte ich. Dabei rieche ich den Duft von frischem Brot und geröstetem Kaffee. "Das freut mich", meint sie, "hast du vielleicht Hunger?" "Und wie, ich könnte einen ganzen Bären verzehren", entgegne ich ihr. "Wunderbar, der Brunch ist schon bereit, komm nur mit in die Küche", fordert sie mich auf. "Danke, gib mir noch eine Minute, dann bin ich bei dir", sage ich und mache mich im Bad etwas frisch. Duschen darf ich ja leider noch nicht.
In der Küche steht ein reichhaltiger Brunch mit vielen verschiedenen Brotsorten, Aufschnitt, Eiern und Joghurt bereit. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, und ich merke, dass ich gestern nur sehr wenig gegessen habe.
"Lang nur zu", fordert sie mich auf. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Belustigt schaut sie mir zu, wie ich meinen Teller genüsslich bis oben hin fülle. Ich frage sie: "Wie hast du geschlafen?" "Oh, danke, auch ganz gut", antwortet sie. "Ich habe mich ja noch zu dir gelegt und bin prompt ebenfalls eingeschlafen. Irgendwann nach Mitternacht bin ich wieder aufgewacht und in mein Zimmer gegangen. Du warst gestern ziemlich erledigt, oder nicht?" "Ja, das kannst du laut sagen", bestätige ich ihr.
"Hast du überhaupt noch mitbekommen, dass ich dir ein Schmerzmittel gespritzt habe?" will sie wissen. "Ah ja, jetzt, wo du's sagst, erinnere ich mich," und augenzwinkernd füge ich hinzu: "Warum hast du mir eigentlich eine Spritze gegeben, so langsam habe ich das Gefühl, du liebst es, mich in den Hintern zu pieksen." Sie schaut mich tadelnd an und meint: "Na ja, eine Tablette wollte ich dir nicht geben, weil dein Magen nicht in Ordnung war. Eigentlich hätte ich dann ein Zäpfchen verabreicht, was aber beim Zustand deines Popos auch nicht ratsam war. Also blieb nur noch die Spritze. War doch nicht schlimm, oder?" "Stimmt", bestätige ich ihr, "ich hätte es fast schon genossen." Sie muss leicht schmunzeln.
Nachdem wir eine Weile schweigend unseren leckeren Brunch genossen haben, beginnt sie zögernd: "Gestern, als ich bei dir auf dem Bett gelegen bin und dich gehalten habe, erinnerst du dich, hast du lange geweint..." Ich schaue sie einige Zeit an und nicke dann. "Ja, es ist einfach so über mich gekommen. Obwohl ich mich in diesem Moment grad sehr gut gefühlt habe... so geborgen irgendwie." "Kannst du dich erinnern, was du zu mir gesagt hast?" fragt sie mich. "Hmm, nicht mehr so genau." "Du hast mich auf französisch gebeten, bei dir zu bleiben, dich nicht zu verlassen." "Hmm, o.k."
Sie schaut mich wieder einige Zeit an und fragt dann: "Yacine, ich möchte dich etwas fragen... du musst aber nicht darüber reden, wenn du es nicht möchtest." Ich schaue sie fragend an. "Wie war das damals, als du ein kleiner Junge warst und deine Mutter...hmm... von euch gegangen ist. Konntest du da mit jemandem über deinen Schmerz reden?" Ich überlege einige Zeit, bevor ich antworte: "Das ist eine gute Frage. Mein Vater und mein Bruder haben beide für sich selber getrauert. Mein Vater war beschäftigt damit, unser Familienleben aufrecht zu erhalten, dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Aber wir haben sehr selten über Ma gesprochen. Einige Male habe ich mit meiner Grossmutter, der Mutter meines Vaters, darüber gesprochen, ich kann mich nur erinnern, dass ich jedesmal geweint habe. Das war aber nicht sehr oft."
Sie hört mir aufmerksam zu und meint dann: "Hmm, dann hast du auch nie eine Therapie gemacht oder so?" "Das hat mein Vater meinem Bruder und mir vorgeschlagen, aber wir wollten das beide nicht. Wir haben nicht verstanden, was das bringen könnte. Wir wollten einfach möglichst schnell wieder normal weiter leben." Sie schaut mich mitfühlend an, und zögerlich führe ich an: "Vielleicht kannst du dich nicht erinnern, aber ich war in dieser Zeit oft bei dir. Wenn es mir schlecht gegangen ist, habe ich irgend ein körperliches Leiden gesucht und mir gesagt, du könnest mir sicher helfen."
"Ja, doch, ich erinnere mich, du warst einige Male bei mir, und oft warst du gar nicht krank oder verletzt, wie du vorgegeben hast. Ich habe dir sogar mal eine kleine Packung Smarties gegeben und dir gesagt, dass dich diese Pillen schnell wieder gesund machen würden." Ich muss bei dieser Vorstellung lächeln.
"Ja, du hast dir immer wieder Zeit genommen, mit mir zu reden, das weiss ich noch. Häufig belanglose Sachen, von der Schule oder dem Volleyballtraining." "Ja, das stimmt, du hast genau in dieser Zeit mit dem Sport begonnen, und dein Trainer hat mir mal erzählt, dass du es sehr gut machst", pflichtet sie mir bei.
Ich nestle an meinem Hosenbund rum und sage ihr: "Schau mal, ich muss dir etwas zeigen." Ich strecke ihr meinen Schlüsselanhänger entgegen. Es ist ein kleiner Volleyball, schon ziemlich in die Jahre gekommen allerdings. "Erkennst du ihn?" frage ich sie. Sie mustert ihn von allen Seiten, und plötzlich begreift sie: "Ah, ja, den habe ich dir glaub mal geschenkt, oder nicht?" "Bingo, den habe ich von dir bekommen, und ich habe ihn immer noch", erkläre ich ihr strahlend. "Dann hat er dir wohl viel bedeutet?" fragt sie beeindruckt. "Ja, das hat er. Und er tut es immer noch." Sie drückt meine Hand, und ich sehe, wie sie Tränen in den Augen hat.
Ich erzähle ihr weiter: "Weisst du, ich habe in der Stadt mal einen genau gleichen gesehen, und hab ihn nochmals gekauft. Daraufhin habe ich deinen in ein Kästchen gelegt, dass er ja nie verloren oder kaputt geht, ja, dass er noch nicht einmal schmutzig wird."
Langsam steht sie auf, geht um mich herum und umarmt mich von hinten. "Yacine, was du durchmachen musstest, sollte kein so kleiner Junge jemals erleben." Ich weiss nicht, was ich darauf erwidern soll, aber geniesse die warme Umarmung und wünsche mir, sie möge nie aufhören.
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Dr. Sophie Marchand und Yacine Vincent
RomanceDie Ärztin Sophie Marchand trifft eines Tages auf den jungen Yacine, der ihr irgendwie bekannt vorkommt. Was sie jedoch nicht ahnt: Yacines bewegte Vergangenheit wird auch ihr Leben in der nächsten Zeit gewaltig auf den Kopf stellen.