Sophie:
Ich fahre mit dem Lift in den vierten Stock und betrete das abgedunkelte Zimmer, in dem Jacques mit geschlossenen Augen auf dem Bett liegt, mit vielen Schläuchen am ganzen Körper. Er wirkt bleich und eingefallen. All die Lebensenergie der letzten Jahre ist aus ihm gewichen.
Ich trete ans Bett und nehme seine Hand in meine. So sitze ich einige Zeit da und weiss nicht, was ich sagen soll. Irgendwann beginne ich mit ihm zu sprechen: "Lieber Jacques, wir haben die letzten Jahre miteinander geteilt, wir waren Gefährten durch die Wellen des Lebens, haben Freud und Leid miteinander erlebt. Und wir können sagen, dass die Freude bei Weitem überwogen hat. Du warst mein Partner, mein Halt, mein Gegenüber, mein Anker im Hafen. Bitte lass uns das weiter führen, lass uns auch die nächsten Jahre miteinander verbringen, uns zusammen mit Yacine freuen am kleinen Louis... bitte bleib bei uns." Tränen laufen mir über die Wangen, und ich weiss nicht, wie lange ich so da gesessen bin.
Lautlos öffnet sich die Tür, und alleine an seiner Grösse kann ich den eintretenden Schatten identifizieren. Yacine ist gekommen.
Er setzt sich schweigend neben mich und legt seinen Arm um meine Schulter. Wir sitzen wohl über eine Stunde schweigend am Krankenbett, jeder in seine Gedanken vertieft. Yacine nimmt einen tiefen Seufzer und flüstert: "Sophie, möchtest du nicht etwas nach draussen gehen und frische Luft schnappen oder etwas Kleines essen? Ich bleibe solange da." Ich bin mir ganz unschlüssig, doch stehe ich nach einiger Zeit auf. Dabei drücke ich Jacques Hand noch einmal etwas fester. Und just in diesem Moment öffnet er seine Augen. Sein Blick schweift weit weg zum Horizont vor dem Fenster. Ich nehme auch seine andere Hand in meine und flüstere: "Jacques..." Da bewegt er seine Lippen und haucht: "Sophie, bitte versprich mir, dass du zu Yacine und Louis acht gibst, ich liebe dich..."
Ich möchte ihm eigentlich sagen, dass er gefälligst wieder gesund werden und mit mir zusammen zu seiner Familie schauen soll, doch instinktiv weiss ich, dass das nicht mehr geschehen wird. So sage ich nur ganz leise: "Ja, Jacques, ich verspreche dir, das werde ich." Als hätte er auf diese Antwort gewartet, schliesst Jacques seine Augen und macht einen letzten tiefen Atemzug, bevor er friedlich aus dieser Welt scheidet.
Ich schlucke leer, stehe einfach nur da. Irgendwann beginnt mein Körper zu zittern, und meine Beine versagen den Dienst. Ich wäre wohl umgekippt, wenn mich nicht zwei starke Arme aufgefangen und an sich gedrückt hätten. Ich kann und will die Tränen nicht zurückhalten und lasse ihnen freien Lauf. Erst mit der Zeit bemerke ich, dass sich meine mit Yacines Tränen vermischt haben, so lange, bis unsere Augen leer geweint sind...
Die kommenden Wochen verbringe ich mit der Vorbereitung auf die Abdankungsfeier für Jacques. Es ist so viel zu tun, dass ich gar keine Zeit habe zu trauern.
Die Feier selber ist dann sehr stark besucht, fast die gesamte Belegschaft des Spitals, in dem er gearbeitet hat, ist angereist.
Yacine weicht die ganze Feier hindurch nicht von meiner Seite, und ich bin froh um seine Unterstützung.
Als alle Trauernden uns kondoliert haben, stehen wir noch eine Weile zu zweit am Grab unseres geliebten Vaters und Partners, und mir wird bewusst, dass ich nun in eine schöne grosse Wohnung ganz allein heimkehren muss.
Yacine hat Louis ein paar Tage zu Pauline gegeben, und in der Schule sind gerade Ferien. Er stellt sich neben mich und dreht mein verweintes Gesicht zu mir. "Hey, Sophie, ich finde, du solltest heute abend nicht alleine sein. Möchtest du bei mir übernachten?" Ich überlege kurz und stimme dann zu: "Ja, du hast recht, Yacine, sehr gern."
Ich hole schnell ein paar Sachen aus meiner Wohnung und fahre dann zu Yacine. Er hat den Tisch hübsch gedeckt, und wir geniessen ein einfaches Nachtessen zusammen.
Ich frage ihn: "Wie ist das für dich, Yacine, deinen Vater zu beerdigen, hat dich das wieder an den Tod deiner Mutter erinnert?" möchte ich wissen. Er überlegt einige Zeit, und meint dann: "Weisst du, ich war damals nicht an der Beerdigung meiner Mutter, und irgendwie bin ich mir unschlüssig, ob ich froh sein soll darüber oder ob ich etwas verpasst habe, das für die Verarbeitung wichtig gewesen wäre." Ich überlege einige Zeit und meine dann: "Das ist schwer zu sagen, es ist wohl, wie es ist."
Er streichelt meinen Arm und flüstert: "Da hast du recht, la vie continue, et maintenant, t'es là."
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Dr. Sophie Marchand und Yacine Vincent
RomanceDie Ärztin Sophie Marchand trifft eines Tages auf den jungen Yacine, der ihr irgendwie bekannt vorkommt. Was sie jedoch nicht ahnt: Yacines bewegte Vergangenheit wird auch ihr Leben in der nächsten Zeit gewaltig auf den Kopf stellen.