Sie schaut mich überrascht an und meint dann: "Ja, so könntest du in der Tat noch etwas Sinnvolles arbeiten und trotzdem viel freie Zeit geniessen." "Das tönt doch gut, nicht wahr?" freue ich mich.
"Das stimmt, die Sache hat nur einen Haken: Mit den sechzig Prozent komme ich leider finanziell nicht durch, das wird mir nicht reichen. Aber ich könnte ja weiterhin bei meinem Arbeitspensum bleiben."
Ich schüttle den Kopf: "Nein, das wirst du nicht müssen, wir würden die Praxis mit meinem Geld finanzieren, wir könnten auch zusammenziehen, dann entfallen für dich die Mietkosten, und wir würden ja zusammen immerhin noch hundert Prozent Lohn generieren, so dass wir nicht ins Negative fallen sollten. Und wenn, wär's auch kein Unglück."Sophie ist ganz still geworden und überlegt. Ich erahne, was ihr durch den Kopf geht und ergänze: "Sophie, du brauchst ja nicht gleich zu entscheiden, du kannst dir gern Zeit lassen. Nur etwas solltest du noch wissen: Ich möchte dich mit diesem Arrangement nicht finanziell an mich binden. Wir könnten auch heiraten, und du wärst finanziell in jedem Fall abgesichert."
"Jacques, das ist ein tolles Angebot, ich werde sehr, sehr gern darüber nachdenken."
Sophie:
Ich sitze auf dem Balkon meiner Wohnung, geniesse eine kalte Schokolade und denke über Jacques Angebot nach. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich meine Arbeit mal auf mein Wunschpensum reduzieren könnte. Andererseits arbeite ich nun schon eine lange Zeit hier, habe ein gutes Team um mich und kenne viele Patienten und ihre Lebensgeschichten in- und auswendig. Es fällt mir sehr schwer, das alles zu verlassen. Eigentlich kann ich mir das gar nicht vorstellen.
In einem spontanen Einfall nehme ich das Handy zur Hand und rufe Yacine an.
Er meldet sich sofort: "Sophie, alles gut bei dir?"
"Hallo Yacine, ja, danke, alles bestens, und bei dir?" "Ich kann nicht klagen. Was gibt's denn?"
Ich erzähle Yacine von Jacques Vorschlag, und er hört aufmerksam zu. Als ich ihn um seinen Rat frage, meint er: "Weisst du, wenn du wirklich gern kürzer treten würdest, schlag doch ein. Das Leben ist kurz genug, und man sollte die Gelegenheiten, die es einem bietet, ergreifen." Ich muss lächeln und erwidere ohne zu überlegen: "Und welche Gelegenheiten willst du denn noch ergreifen in deinem Leben?"
"Hmm, da gibt es nur eine, und du weisst, welche", meint er postwendend. Ich bin mir unsicher, ob er das nun ernst oder ironisch meint und bereue meine Frage. Doch ich antworte: "Yacine, du weisst, du könntest ungefähr 80% aller Frauen der ganzen Alpennordseite haben, wenn du wolltest." "Vielleicht, aber die eine gehört leider zu den andern 20%", meint er lapidar.Ich weiss nicht, was ich antworten soll und schweige einen Moment. Er nimmt einen tiefen Atemzug und meint: "Nun gut, wie gesagt, führt doch miteinander die Praxis, das wird dir und meinem Vater beiden gut tun. Und ich komme euch ab und zu besuchen." "Genau, mach das, so oft du willst", pflichte ich ihm bei. Und er fügt an: "Aber eines musst du mir versprechen!" "Und das wäre?" frage ich ihn neugierig. "Wenn ich mal wieder mit einem delikaten Problem in eure Praxis komme, möchte ich dann gern wieder von dir behandelt werden." Lächelnd erwidere ich: "Alles klar, ich freue mich schon drauf!"
Lässig verabschiedet er sich: "Schau zu dir, Sophie", und beendet das Telefonat.
Sophie:
Ich habe mir Jacques Angebot immer und immer wieder durch den Kopf gehen lassen, Pros und Contras gegeneinander abgewogen und mich schliesslich nach einigen Wochen entschieden, es anzunehmen.
Daraufhin habe Ich ihn an einem Samstagabend in unser Lieblingsrestaurant eingeladen und ihm eröffnet, dass ich mich freuen würde, mit ihm zusammen eine Praxis zu führen. Er freut sich ehrlich über meinen Entscheid und meint dann: "Was den Ort betrifft, wäre ich flexibel, wenn du möchtest, können wir deine Praxis weiterführen, oder eine in meiner Nähe oder ganz an einem andern Ort." "Das habe ich mir auch schon überlegt, und ich glaube, ich bin bereit für eine neue Herausforderung. Ich bin nun schon über 15 Jahre in dieser Praxis und möchte gern wieder mal etwas Neues sehen."Jacques ist erfreut: "Das finde ich natürlich toll, wenn wir zusammen etwas Neues eröffnen."
Wir entscheiden uns, in einem relativ grossen Rayon um Jacques Wohnort eine geeignete Lokalität zu suchen. Nach einigen Wochen finden wir einen modernen Neubau, dessen unterster Stock ideal konzipiert ist, um darin eine Praxis einzurichten.
Jacques hat inzwischen seine Stelle gekündigt. Viele haben nicht verstanden, wie man einen Chefarztposten verlassen kann, um sich an zwei Tagen die Woche als Hausarzt zu betätigen. Doch, wie er mir sagt, bewundern ihn einige auch für seinen mutigen Entschluss oder beneiden ihn sogar ein wenig.
Auch ich habe meine alte Praxis aufgegeben und mit meinen Kolleginnen und meinem Nachfolger ein grosses Abschiedsfest gefeiert.
Wir wohnen nun in Jacques' Haus und haben ungefähr ein halbes Jahr geplant, in dem wir einerseits etwas ausspannen und andererseits die Praxis einrichten und weitere Leute einstellen möchten.
Wir finden drei gute Mitarbeiterinnen, eine Ärztin, die als Mutter nur fünfzig Prozent arbeiten möchte und zwei Assistentinnen, eine junge, die Vollzeit arbeitet und eine etwas ältere, deren Kinder schon fast erwachsen sind und die auch fünfzig Prozent arbeitet. Somit haben wir sowohl bei den Assistentinnen als auch bei uns ÄrztInnen je ein Pensum von hundertfünfzig Prozent, was ideal ist für die Praxis.Die Räumlichkeiten der Praxis gestalten wir hell und freundlich, mit einem weissgrauen Eichenparkettboden und weissen Wänden, die Möbel halten wir in einem freundlichen hellen Grünton.
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Dr. Sophie Marchand und Yacine Vincent
RomansaDie Ärztin Sophie Marchand trifft eines Tages auf den jungen Yacine, der ihr irgendwie bekannt vorkommt. Was sie jedoch nicht ahnt: Yacines bewegte Vergangenheit wird auch ihr Leben in der nächsten Zeit gewaltig auf den Kopf stellen.