Teil 36

554 16 0
                                    

Sophie:

Wir könnten zwar weiterhin pendeln von Jacques Wohnort zu unserem neuen Arbeitsort, das sind etwa vierzig Minuten Weg. Doch, als wir nach einem arbeitsreichen Tag noch etwas zusammensitzen, fragt mich Jacques unerwartet: "Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, wo du gern wohnen möchtest?" Ich schaue ihn an und meine: "Ich dachte, du möchtest in deinem Haus hier bleiben?"
"Ach, weisst du", meint er, "darin wohne ich jetzt seit über dreissig Jahren. Wir haben es damals gekauft und nicht viel investiert. Es hätte einige Renovationen nötig, aber eigentlich möchte ich das nicht in die Hand nehmen. Zudem sind viele Erinnerungen damit verbunden, die ich gern auch mal hinter mir lassen möchte."

Ich lasse mir das alles durch den Kopf gehen. Mir gefällt die Idee, mit Jacques zusammen in ein neues Heim zu ziehen und schlage vor: "Von mir aus muss es ja auch nicht unbedingt wieder ein ganzes Haus sein, eine schöne moderne Wohnung wäre auch ganz nett." Jacques überlegt kurz und meint dann: "Ja, warum eigentlich nicht?"

In den nächsten Wochen schauen wir uns einige Wohnungen an. Obwohl wir kein eigenes Haus mehr brauchen, haben wir doch einige Platz-Ansprüche. Wir möchten gern jeder ein eigenes Schlafzimmer haben, ein Gästezimmer brauchen wir auf jeden Fall auch, damit seine Söhne jederzeit bei uns übernachten können. Dann wünscht sich Jacques eine Bibliothek, wo er etwas arbeiten kann, und ich träume schon lange von einem Kreativ-Atelier, wo ich malen, nähen oder sogar heimwerken kann. Somit sind wir schon bei einer Sechs-Zimmer-Wohnung. So eine finden wir tatsächlich nach einiger Zeit im Nachbardorf unserer neuen Arbeitsstelle. Es ist eine Terrassenwohnung mit einer schönen Aussicht und einem riesigen Sitzplatz. Zusätzlich zu den fünf Zimmern und einem offenen Wohn-, Koch- und Essbereich bietet sie zwei praktische Reduits, eine grosszügige Waschküche und zwei abgetrennte Kellerräume.

Zudem hat sie drei Nasszellen: ein mittelgrosses Badezimmer mit Dusche, WC und Doppellavabo, ein kleines Gäste-WC und ein wirklich geräumiges Badezimmer mit einer frei stehenden Badewanne, einer grosszügigen Regendusche und einer kombinierten Sauna mit Dampfbad. Und was mir besonders gut gefällt: Es gibt einen begehbaren Schrank, der so gross ist wie ein kleines Zimmer.

Die Wohnung ist noch im Rohbau, so dass wir das Innendesign selber mitbestimmen können. Wir stellen erfreut fest, dass wir einen ganz ähnlichen Einrichtungsgeschmack haben und geniessen das Auswählen der neuen Materialien in vollen Zügen. An dem einen kleinen Reduit lässt Jacques die Wände verstärken und eine Stahltür einbauen, so dass er endlich seine geliebten Uhren auch zu Hause ansehen kann und sie nicht in einem Banktresor lagern muss.

Sein altes Haus hat er zu einem guten Preis verkaufen können, vor allem, weil es an einer begehrten Lage steht. Unsere neue Wohngegend ist nicht ganz so exklusiv, und so reicht das Geld seines alten Hauses, um die neue und moderne Wohnung zu finanzieren.

Die Räumlichkeiten der Praxis habe ich aus dem Erlös meiner ehemaligen Praxis finanzieren können, und Jacques hat den Innenausbau und die Geräte beigesteuert. Zusätzlich hat er noch etwas Geld zur Seite gelegt für das halbe Jahr, in dem wir ja nichts verdienen.

Pünktlich auf Jahresanfang können wir die Praxis eröffnen. Die Region ist in den letzten Jahren stark gewachsen, und eine bessere medizinische Versorgung war schon länger überfällig. Deshalb haben wir auch schon von Beginn weg eine gut gefüllte Praxis.

Jacques geniesst die beiden Tage in der Praxis jeweils in vollen Zügen. Die Patienten schätzen seine grosse Erfahrung, und mit seiner charmanten Art gewinnt er schnell das Vertrauen vor allem seiner weiblichen Patientinnen. Was diese nicht wissen: Auf dem Gebiet der Allgemeinmedizin bin ich natürlich die Erfahrerene, und Jacques holt sich immer mal wieder einen Rat von mir hinter vorgehaltener Hand.

Und auch die beiden Praxisassistentinnen mögen ihn und flirten ganz ungeniert mit ihm, wenn sie denken, ich sehe sie nicht. Mich stört das nicht, im Gegenteil, ich bin froh, dass wir in einem so positiven Klima miteinander arbeiten können.

Ich bin gespannt, ob sich die Praxis für uns rentiert oder wir möglicherweise noch etwas drauf zahlen müssen. Doch nach den ersten Monaten zeigt sich bereits, dass wir uns einen etwa branchenüblichen Lohn auszahlen können. Wir arbeiten zusammen ja gerade hundert Prozent, ich drei Tage die Woche und Jacques zwei. Zusammen mit unserer jungen Kollegin können wir sicher stellen, dass immer mindestens ein Arzt in der Praxis ist, auch während der Wochenenddienste oder, wenn jemand von uns in den Ferien weilt. Ein Glücksfall ist das Zusammentreffen mit einem Studienkollegen von Jacques, der in der Nähe wohnt und sich bereit erklärt hat, als Aushilfe einzuspringen, wenn einmal Not am Mann ist.

Jacques und ich haben nun deutlich mehr freie Zeit als zuvor. Wir geniessen diese Tage in vollen Zügen. Bei ihm sind es neben dem Wochenende etwa drei Tage pro Woche und bei mir etwa zwei. Wir schauen, dass wir an mindestens drei Tagen pro Woche zusammen etwas unternehmen können, sei es mal einen Städtetripp, einen kulturellen Ausflug oder - wenn wir mehrere freie Tage haben - eine kleine Reise ins Ausland. Zudem geniesse ich die gewonnene Zeit mit mehr Bewegung im Freien, oder ich nutze mein neues Atelier für kreative Aktivitäten.


Jacques:

Sophie und ich haben heute beide in der Praxis gearbeitet, es ist schon nach sieben, und ich habe soeben meine letzte Patientin verabschiedet. Alle anderen Mitarbeitenden sind bereits nach Hause gegangen, und ich strecke meinen Kopf durch die Tür zu Sophies Arbeitszimmer, in dem sie noch einige Schreibarbeiten erledigt. Sie hebt kurz ihren Kopf, und ich informiere sie: "Hey, Sophie, ich besorg uns auf dem Heimweg noch etwas zum Nachtessen und warte dann daheim auf dich, brauchst du noch lange?" Sie schüttelt den Kopf: "Nein, ich sollte in ca. zwanzig Minuten durch sein und komme dann nach, geh du nur."

Schwungvoll schliesse ich die Tür, übersehe dabei einen Rollwagen mit Instrumenten auf dem Flur, stolpere darüber und falle unsanft der Länge nach auf den Boden. Unsicher versuche ich mich aufzurappeln, als Sophie erschrocken aus ihrem Zimmer kommt und sich zu mir kniet: "Hey, Jacques, was machst du denn für Sachen?" Ich will mich mit der linken Hand abstützen, spüre jedoch einen stechenden Schmerz in meinem Handgelenk und sinke gleich wieder zu Boden.

Dr. Sophie Marchand und Yacine VincentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt