Teil 18

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Sophie:

Yacine und ich schlendern langsam die Strasse entlang, und bald schon gelangen wir zu meinem kleinen Hotel in einer Seitenstrasse. Ich frage ihn: "Wie geht es eigentlich deiner Hüfte, Yacine, du hast mich ganz schön erschreckt mit deiner Aktion heute." Er lächelt mich schief an und hebt seinen Pullover ein wenig nach oben. Ein grosser blauer Fleck kommt zum Vorschein, und ich ziehe ihn unter eine Strassenlampe, um ihn genauer betrachten zu können. Aus lauter Gewohnheit habe ich schon fast begonnen, ihn fachmännisch zu betasten, und gerade noch rechtzeitig frage ich ihn: "Darf ich...?"

Er meint nur frech: "Klar doch, ich bitte sogar darum." Ich lege zärtlich meine Hand auf den Bluterguss und taste ihn vorsichtig ab. Als ich zwischendurch Yacine in die Augen sehe, schaut er mich mit einem so treuherzigen Blick an, dass mir ganz warm wird ums Herz.

Ich stecke ihm den Pullover wieder in die Hose und meine mit rauher Stimme: "Ja ghm, ich glaube, es ist wirklich nur ein blauer Fleck, der nach einigen Tagen wieder verschwindet." Und, als er nichts erwidert, füge ich an: "Na dann..."

Ich bemerke, dass er plötzlich ganz ruhig wird und sein Blick in die Ferne schweift. Ich schaue ihn fragend an, er seufzt und drückt mich fast schmerzhaft fest an sich. Ich schlinge die Arme um seinen Körper und geniesse die Wärme, die von ihm ausgeht. Ohne mich loszulassen, meint er mit belegter Stimme: "Du brauchst nicht in dieses Hotel zu gehen, Sophie, übernachte doch einfach bei mir. Ich kann auch gern auf der Couch schlafen, wenn du möchtest." Ich löse mich von ihm, was mich nicht nur physisch enorm Kraft kostet und entgegne: "Yacine, das hatten wir doch schon, es ist besser so."

Er rauft sich die Haare und meint: "Dann lass mich dich wenigstens abholen morgen." Lächelnd lege ich meine Hand auf seinen Arm und sage: "Gern, wann kommst du denn?" Mit Schalk in den Augen antwortet er: "Ich komme um null Uhr dreissig, dann sind wir sicher rechtzeitig im Training."

Auf meinen tadelnden Blick korrigiert er sich aber schnell: "Also gut, das Training beginnt um 9, wäre viertel nach acht gut?" "Das ist gut, ich werde bereit sein", antworte ich und drehe mich schnell um, um uns - und vor allem ihm - den Abschied nicht noch schwerer zu machen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie ein kurzes Zittern durch Yacines Körper geht, bevor er sich umdreht und schnellen Schrittes davongeht.

Lange liege ich noch wach und finde keinen Schlaf. Yacine hat mich heute stark beeindruckt, ich habe nicht geahnt, dass er so gut Volleyball spielt. Woher nimmt er nur all die Kraft? Wenn ich mich zurück erinnere an den schmächtigen, ängstlichen, scheuen Jungen, der er war, kann ich kaum glauben, welche Entwicklung er durchgemacht hat. Trotz seines schweren Schicksals. Doch - dass er immer noch leidet - ist nicht zu übersehen. Und ich weiss, dass er in mir viele Anteile seiner Mutter sieht, und ihm deshalb auch nur schon kleine Abschiede von mir sehr weh tun. Wenn ich ihm doch nur helfen könnte. Ich werde ihn einfach als seine Ärztin und Bezugsperson nach besten Kräften unterstützen.

Und mit diesem Gedanken döse ich langsam ins Land der Träume. Dort wechseln sich der kleine Junge Yacine mit dem Mann, der er heute ist, ab. Mal sitzt er weinend am Boden, mal fliegt er kraftvoll über mich hinweg.

Als der Wecker mich viel zu früh aus dem Schlaf reisst, bin ich ganz konfus und muss erst mal lange unter die Dusche stehen, um mich wieder einigermassen herzurichten.

Als ich die Treppe runtersteige, wartet Yacine schon auf mich. Er sieht ziemlich zerzaust aus und ich vermute, dass er nicht allzu viel geschlafen hat. Er kommt auf mich zu, legt lässig seinen Arm um mich und gibt mir einen Kuss auf die Haare. "Hey, gut geschlafen?" fragt er mich. "Hmm, geht so", antworte ich ihm und füge hinzu: "Du wohl auch." Mit einem verschlafenen Blick meint er: "Sieht man mir das so gut an?" "Ähm, ja", antworte ich wahrheitsgemäss, und wir müssen beide lachen.

Yacine hat sein Motorrad dabei, und wir steigen beide auf die Maschine. Zum Glück hat er daran gedacht, für mich einen zweiten Helm mitzubringen.

Als wir vor der Turnhalle eintreffen, wartet Andrea schon auf uns. Er begrüsst Yacine mit einem Handschlag und drückt mich kurz an sich. "Yacine, du kannst schon mal in die Halle gehen, ich erkläre Sophie noch kurz das Organisatorische." Yacine gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und meint augenzwinkernd: "Bis später."

Dr. Sophie Marchand und Yacine VincentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt