64. Kapitel - Anderswelt

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Laute Rufe, Flüche, Schmerzensschreie und eine allgemeine Panik rissen mich aus der Erinnerung an meinen Tod. Ich lag auf dem Boden im Raum mit dem Torbogen, wo wir gegen die Todesser gekämpft hatten. Einige von uns kämpften immer noch, während die meisten Todesser bereits zusammengeschnürt an einem Ende der Arena sassen. Dann fielen mir die Kratzer auf, die alle im Gesicht und auf ihren Händen und Armen hatten, die kleinen, blutigen Löcher in den Umhängen, und die in der Luft erstarrten Eissplitter, die um mich herum eine lose Kugel bildeten. Etwas Schweres drückte mich zu Boden. Ich versuchte dieses Etwas von mir herunterzurollen und stellte mit Schrecken fest, dass es kein Etwas war – Es war ein Jemand. Es war Emmeline Vance, die ebenfalls mit und gekommen war, um Harry zu helfen. Und jetzt lag sie reglos hier und blutete aus unzähligen kleinen Wunden. Teilweise steckten noch Eissplitter in den Wunden und mir wurde schlecht. Kaum drei Meter von mir entfernt lag eine weitere Gestalt am Boden. Die glatten, schwarzen Haare, die unter der Todessermaske hervorschauten und die blauen Augen, die weit aufgerissen waren, verrieten mir, dass es Sandra war. Meine Schwester. Meine letzte Schwester.

«Wieso hast du das getan?» hörte ich die Stimme meines kleinen grossen Bruders, der neben Sandra kauerte. Er klang nicht anklagend, nur traurig und er sprach auch nicht mit mir.

Sandra antwortete nicht. Sie lag einfach nur reglos da.

«Was ist passiert?», fragte ich Liam.

«Du hast dich verteidigt. Du hast Wasser und Eissplitter in den Raum geschleudert», erklärte der geisterhafte Schatten meines Bruders.

«Ich habe Emmeline getötet. Und meine eigene Schwester», sagte ich tonlos.

«Du hast dich nur verteidigt!», erklärte Liam mir vehement.

«Und Sandra ist nicht tot. Auch ... wenn es vielleicht besser wäre.»

Entsetzt starrte ich Liam an. Das hatte er nicht gerade wirklich gesagt!?

«Der Tod ist nicht schlimm, Lucy. Er ist friedlich, eine Erlösung und im Tod begegnest du allen Menschen wieder, die du geliebt und verloren hast», erklärte Liam.

Eine weitere reglose Gestalt fiel mir auf. Sie lag ebenfalls in meiner Nähe und auch bei ihr sickerte aus zahlreichen Wunden Blut und durchnässten den Todesserumhang.

Langsam kehrte im Raum Ruhe ein. Die Ordensleute gewannen die letzten Gefechte und nahmen die Todesser gefangen, auch Sandra, die immer noch bewusstlos war. Mad-Eye war der Meinung, dass es sich nicht lohnte, sie aufzuwecken, bevor sie wieder in Askaban sass. Einige Mitglieder des Ordens verliessen den Raum, um nach Harrys Freunden zu suchen. Ich sah mich um. Neville war immer noch hier, Alice hatte die Arme um ihn geschlungen und ihn so eng an sich gezogen, als wolle sie ihren Sohn nie mehr loslassen. Von den anderen fehlte jedoch jede Spur. War Harry vorhin nicht ebenfalls hier im Raum gewesen?

«Lucy, alles in Ordnung?», Remus klang besorgt, als er sich mir vorsichtig näherte. Auch ihn hatten einige Eissplitter erwischt, doch es waren nur oberflächliche Kratzer, die bereits nicht mehr bluteten.

«Es ... geht ...», antwortete ich unsicher. Ich war mir darüber selbst nicht im Klaren.

«Weisst du, Lu, das Leben kann unheimlich kurz sein», sagte Liam und sah nachdenklich zu Remus.

«Deins war es auf jeden Fall», murmelte ich meinem mit fünf Jahren verstorbenen Bruder zu.

«Ja. Deins aber auch.» Er sah mich mit grossen, blauen Augen an. Den Augen, die alle Adrias hatten. «Nicht alle bekommen eine zweite Chance, weisst du, Lu. Du musst kämpfen und darfst nicht zögern, denn ich glaube nicht, dass du noch eine dritte Chance bekommen wirst. Und dieser Werwolf dort ...» Liam grinste von einem Ohr zum anderen. «Der gehört auch zu deiner zweiten Chance.»

«Ich muss jetzt gehen, Lu», erklärte Liam mir traurig. «Ich kann nicht länger bleiben.»

«Wohin?», fragte ich und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Ich wollte ihn nicht gehen lassen.

«Zurück. In die Anderswelt.» Liam zeigte zum vom Schleier verdeckten Tor hinüber. «Nach Hause. Ach, Lu», mit geisterhaften Fingern strich er mir die Tränen aus dem Gesicht, die ich nun doch nicht mehr hatte zurückhalten können. «Keine Sorge, wir werden uns wieder sehen. Aber hoffentlich nicht allzu bald.» Mit einem lieben Lächeln im kindlichen Gesicht sah Liam mich ein letztes Mal an, bevor auch er verschwamm und durch das Tor in die Anderswelt hinüber glitt. Ich starrte ihm nach.

«Lucy.» Remus kauerte sich neben mir und ich lehnte mich an ihn. Die Tränen rannen ungehindert über meine Wangen, jetzt da mein kleiner Bruder sie nicht mehr wegwischte.

«Es wird alles gut. Es wird alles gut», murmelte Remus und strich mir übers Haar, über Schultern und Arme.

«Was ist genau passiert? ... nachdem ich diese Eissplitter in den Raum geschleudert habe?», fragte ich zaghaft nach.

Ein raues, trauriges Lachen kam von Remus. «Du hast uns alle beinahe zu Tode erschreckt und für einen Moment waren wir alle damit beschäftigt, uns, so gut er eben ging, gegen das Eis zu schützen. Dann ging der Kampf auch schon weiter.»

«Hat sich jemand schlimm verletzt?», fragte ich besorgt.

«Nein, jedenfalls niemand ausser, Emmeline, Sandra und Rabastan Lestrange. Wir anderen haben nur Kratzer abbekommen.»

Rabastan Lestrange. Ich starrte auf den dritten Toten. Ich erinnerte mich an ihn aus dem Zeitungsbericht über den Ausbruch aus Askaban im Winter. Er war ebenfalls einer von denen gewesen, die Alice und Frank gefoltert hatten. Er hatte für seine Taten definitiv den Tod verdient, doch trotzdem fühlte ich mich schuldig. Und Emmeline. Sie hatte nichts anderes getan, als mich zur Seite zu stossen, bevor Sandras Todesfluch mich hatte treffen können. Wenn sie das nicht getan hätte, wenn sie mich hätte sterben lassen, dann wäre sie jetzt noch am Leben.

«Und sonst?», fragte ich Remus. «Gab es sonst Verletzte?»

«Kratzer, blaue Flecken, Tonks hat sich eine blutende Nase geholt, nichts Ernstes. Die Kinder hat es schwerer erwischt. Harry ist der einzige, dem es noch einigermassen gut ging, jedenfalls, als er aus dem Raum gerannt ist, Bellatrix nach – » Remus Stimme versagte.

«Was ist passiert?», fragte ich tonlos.

«Bellatrix hat ... sie hat ... sie hat Sirius getötet. Er war nur eine Sekunde unachtsam und da hat ihn der Fluch auch schon erwischt.»

Nur eine Sekunde. So schnell konnte es gehen. So schnell konnte alles vorbei sein.

«Wo ist er jetzt? Sirius?», fragte ich und sah mich nach einer weiteren reglosen Gestalt um.

«Er ist durch den Torbogen gestürzt und hinter dem Schleier verschwunden. Ich weiss nicht was dort ist, aber niemandem von uns gefällt die Idee, dort hindurch zu gehen, um seine Leiche zurück zu holen.»

«Besser nicht.»

Remus sah mich fragend an.

«Hinter dem Tor liegt die Anderswelt. Wer dort hindurch geht, kann nicht mehr zurück.»

«Woher weisst du das?», fragte Remus neugierig. «Weil du selber ...?»

Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. «Nein, nicht weil ich selbst einmal tot war. Jedenfalls nicht direkt. Du erinnerst dich daran, dass wir alle, Arabelle, du und ich, Stimmen gehört haben, als wir diesen Raum betreten haben?» Remus nickte. «Nun, soweit ich das verstanden habe, habt ihr beide nur undeutliches Gemurmel gehört, aber ich konnte ganz klar Lynns Stimme hören und auch die meiner Eltern. Sie haben mit mir gesprochen. Und dann vorhin, während des Kampfs ... Plötzlich war da dieser kleine Junge – Liam, mein Bruder, den ich nie kennengelernt habe. Er hatte ebenfalls meine Gabe, weisst du, Remus, und er war plötzlich da und hat mir geholfen, als ich gegen Sandra kämpfen musste. Er war ein Geist, aber irgendwie doch nicht ganz, und er hat nasse Fussabdrücke hinterlassen ...» Ich hörte auf zu reden. Es war ohnehin kaum noch mehr als ein unverständliches Schluchzen.

«Und Liam hat dir gesagt, was hinter dem Schleier liegt», schlussfolgerte Remus.

Lucy Adria - Die Kräfte des Wassers (HP FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt