54. Kapitel - Josh Cian

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Ich hatte das Gefühl, Jahre lang wie eine Statue vor dem Schrein gestanden zu haben, als ich endlich einigermassen über den Schock über die Entdeckung meiner Nichte hinweg war. Ich konnte es schlichtweg nicht fassen. Meine Schwester Kathrin hatte eine Tochter gehabt, noch dazu eine, die meine Gabe geerbt hatte. Und ... sie war noch am Leben. Und das war das unfassbarste an der ganzen Sache. Ich hatte doch noch lebende Familie. Mein Blick schweifte weiter über die Zweige meines Familienstammbaums. Neben Kathrin und Josh kam Stephanie Adria, 1958 – 1980 und danach kam Lynn, meine Zwillingsschwester, geboren 1960, gestorben 1979. Nicht einmal zwanzig Jahre alt war meine Zwillingsschwester geworden, bevor Voldemort sie getötet hatte – oder hatte töten lassen, so genau wusste ich das nicht. Doch egal wie es gewesen war, es schürte meinen Hass gegen ihn und meinen Entschluss, ihn zu vernichten. Und dann, neben Lynn, kam eine weitere goldene Tafel. Meine. Es war meine Tafel: Lucy Adria, 1960 – 1981. Ich war einundzwanzig Jahre alt geworden, bevor ich gestorben war. Bevor ich gestorben war, es war seltsam, diese Worte auch nur zu denken. Ich fühlte mich überaus lebendig, auch wenn mir mein letzter Zauber, den ich in Hogwarts ausgeführt hatte, immer noch in den Gliedern steckte. Es kam mir irgendwie seltsam vor, dass ich erst vor ein paar Stunden die Schule unter Wasser gesetzt hatte, ich hatte das Gefühl, es seien seither Jahre vergangen. Unzählige Jahre.

Mühsam wandte ich mich vom Schrein ab und bewegte mich zurück durch den Hain und in Richtung Haus. Ich fühlte mich seltsam abgestumpft, konnte nichts mehr von meiner Umgebung richtig wahrnehmen. Ich hatte eine Nichte. Eine Nichte, die meine Gabe geerbt hatte. Immer und immer wieder gingen mir diese beiden Gedanken durch den Kopf und vernebelten all meine anderen Gedanken, ich war so auf diese beiden Gedanken fokussiert, dass ich mir nichts dabei dachte, als ich die Terassentür, die nur angelehnt war, aufdrückte und das Wohnzimmer betrat. Genauso in Gedanken ging ich in Richtung Küche, mit der unbestimmten Absicht, mir ein Glas Wasser zu holen. Auch diese Tür schwang geräuschlos auf, als ich dagegen drückte, ein lautes Japsen erklang, ein Ausruf und bevor ich mich auf die Quelle dieser Geräusche konzentrieren konnte, schlug etwas Kaltes, Hartes gegen meinen Kopf und ich kippte nach hinten um. Die Welt versank in Dunkelheit.

Das Aufwachen war ausgesprochen seltsam. Ich lag in einem warmen, weichen Bett und schaute nach oben, an die Zimmerdecke. Wo war der Baldachin meines Himmelbetts geblieben? Doch auch ohne Baldachin hatte die Decke ein dunkles Blau und daraus hervor leuchteten die Sterne. In einer Ecke des Raums loderte ein offenes Kaminfeuer, was sich wiederum von dem Ofen unterschied, der meinen Schlafsaal im Ravenclawturm heizte. Zudem fehlten auch die anderen Betten, nur ein Sofa stand in einer Ecke des Raums und darauf schlief, in sitzender Position, den Kopf gegen die Rücklehne gelehnt und den Hals unangenehm verrenkt, ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Er hatte sich eine Decke umgelegt und auf seinem Schoss lag vergessen eine Zeitung, in der er wohl gelesen hatte, bevor er eingeschlafen war. Ich betrachtete den Mann genauer. Er hatte ein freundliches Gesicht mit Lachfältchen um die Augen. Sein Haar war braun, wurde aber an den Schläfen bereits grau. Ich kannte ihn nicht, auch wenn ich das unbestimmte Gefühl hatte, dass ich ihn kennen sollte. Immerhin lag er auf diesem Sofa und ich schlief in dem Bett, das sich im gleichen Zimmer befand. Neben dem Bett ertastete ich ein Nachttischchen und darauf fand ich – zu meiner grossen Überraschung und Verwirrung – eine elektrische Nachttischlampe. Der dunkelblaue Lampenschirm verhinderte, dass das Licht, das nun anging, den Raum grossartig erhellte, nur die unmittelbare Umgebung des Betts wurde erhellt und ich konnte den Nachttisch und die Gegenstände, die dort standen, in Augenschein nehmen. Vornehmlich waren das ein antik anmutender Wecker und ein Bilderrahmen. Das Bild darin zeigte vier lachende Mädchen in Hogwartsumhängen. Alle vier trugen Ravenclaw-Krawatten. zwei der Mädchen sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Ein Mädchen trug ein Vertrauensschülerabzeichen. Eine hatte ihre Hand zum Peace-Zeichen erhoben, die anderen lachten darüber. Das Bild bewegte sich, wie es alle Bilder in der Zaubererwelt taten, doch im Gegensatz zu den Gemälden in Hogwarts, konnten die Abgebildeten nicht sprechen und ich konnte sie nicht fragen, wer sie waren. Doch glücklicherweise gab es eine andere Möglichkeit, das herauszufinden, zumindest hoffte ich darauf und tatsächlich, als ich das Foto aus dem Rahmen löste und es umdrehte, sah ich die Schrift in der linken unteren Ecke: 1978: Bianca Hawell, Arabelle Cruse, Lynn Adria, Lucy Adria. Ich drehte das Bild wieder um und betrachtete die ausgelassenen Mädchen. Wir waren die vier Ravenclaw-Mädchen aus meinem Jahrgang; das Foto war in meinem Abschlussjahr entstanden. Bianca hatte kurzes braunes Haar – eine Jungenfrisur hatten das einige abfällig genannt, erinnerte ich mich. Arabelles blonde Haare waren wie immer zu einem strengen Zopf geflochten und auch das Lachen konnte ihre Trauergezeichneten Züge nicht ganz verbergen. Wir waren in der ersten Klasse gewesen, als ihre Eltern bei einem Todesser-Angriff ums Leben gekommen waren. Die beiden waren Muggel gewesen und die Todesser hatten sie vermutlich nur zum Spass getötet. Meine Familie hatte Arabelle danach aufgenommen und ich hatte mit ihr eine weitere Schwester bekommen. Lynn und ich glichen uns wie ein Ei dem anderen, auch mit achtzehn Jahren hatte sich das nicht verändert. Nur ein Jahr nachdem dieses Foto entstanden war, war Lynn gestorben, ich zwei Jahre darauf. Was aus Arabelle und Bianca geworden war, wusste ich nicht.

Lucy Adria - Die Kräfte des Wassers (HP FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt