Bonuskapitel 2

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Mein Blick galt allein dem Backsteingebäude auf der anderen Straßenseite. Vor gut einem Jahr hatte ich mir geschworen, diesen Ort nie wieder zu betreten. Viel zu lebhaft waren die Bilder eines Abends, der mir gezeigt hatte, dass Frust und Schmerz nicht mit Alkohol verschwanden; sie wurden lediglich betäubt und der Zeitpunkt, an dem man sich mit diesen Gefühlen auseinandersetzen musste, aufgeschoben.

Es war ein Augenblick menschlicher Schwäche gewesen, resultierend aus den vermeintlich verheilten Wunden der Vergangenheit, die durch wenige Worte erneut aufgerissen worden waren und  schmerzhafter bluteten als jemals zuvor. 

Dennoch war es vielleicht die schamhafte Erinnerung an diesen Abend, der dem Gebäude vor mir seinen Reiz verlieh. Mir bot sich hier und jetzt die einmalige Chance, dieses schmerzhafte Kapitel meines Lebens endgültig hinter mir zu lassen und die Wunden der Vergangenheit ein für allemal zu verschließen. Ich wäre dumm, diese Gelegenheit nicht zu ergreifen.

Daher zweifelte ich auch keine Sekunde mehr daran, dass  die richtige Entscheidung getroffen hatte. Mit großen Schritten lief ich auf die Eingangstür zu, aus der genau in dieser Sekunde ein adrett gekleideter junger Mann trat, dessen Blick augenblicklich an mir hängen blieb. Ich konnte beobachten, wie ihm für einen Moment die Gesichtszüge entglitten und er mich anstarrte als wäre ich ein Engel, der gerade vor ihm vom Himmel gefallen war.

Verdenken konnte ich es ihm nicht: die Kombination aus weißer Bluse und Anzughose, die mir Lia einzig und allein für den heutigen Tag zusammengestellt hatte und sonst nicht einmal annähernd meinem Geschmack entsprach, hatte selbst mir im Spiegel kurz den Atem geraubt. Zusätzlich wehte eine leichte Brise durch mein inzwischen wieder hellbraunes Haar, was meinem Auftritt einen gewissen dramatischen Effekt verlieh.

Als Krönung des Ganzen thronte eine schwarze Sonnenbrille auf meiner Nase, die dem gesamten Look etwas Cooles und gleichzeitig mysteriöses verlieh. Kurzum konnte man sagen, dass mein Selbstbewusstsein in diesen Kleidungsstücken förmlich in die Höhe schoss und sich beinahe mit dem von Cole messen konnte – wobei es bis dahin sicherlich noch einige Höhenmeter zu erklimmen gab.  

Als ich auf der anderen Seite der Straße angekommen war, schenkte ich dem Mann ein strahlendes Lächeln und schob mir meine Sonnenbrille ins Haar, bevor ich durch die Tür, die er noch immer geöffnet hielt, ins Innere des Backsteinhauses trat.

Der kalifornische Sommer und die damit einhergehenden Temperaturen hatten auch dieses Lokal hier nicht verschont und die Hitze war so erdrückend, dass ich meinen Plan beinahe über den Haufen geworfen hätte.

Erst als ich einem schmalen Gang folgte, merkte ich, wie sich die Umgebung allmählich ins Erträgliche abkühlte und sich meine Haut das erste Mal seit Stunden nicht so anfühlte als hätte man sie in Brand gesteckt.

Bei meinem letzten Aufenthalt an diesem Ort hatte ich der Innenausstattung – mit Ausnahme der gut bestückten Bar und dem Barkeeper, der mich mit Getränken aus dieser gut bestückten Bar versorgt hatte – keinerlei Aufmerksamkeit zukommen lassen.

Nun aber, da ich nicht das ultimative Ziel hatte, mithilfe von Alkohol in eine andere, schönere Welt zu reisen, konnte ich einen Moment innehalten und meinen Blick durch den Raum wandern lassen.

Überall standen kleine Tische verteilt, an denen man die verschiedensten Personenkonstellationen vorfinden konnte: von einer Gruppe alter Herren, die mit einem Bierglas vor sich und Spielkarten in der Hand pokerten, über eine Handvoll junger Männer, die sich, ihren schicken Anzügen nach zu urteilen, noch auf einen Drink nach der Arbeit verabredet hatten, bis zu einem Pärchen, welches sich in eine der Nischen verzogen hatte, um dort vermutlich Liebesbekundungen aller Art auszutauschen.

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt