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Wieder in Kalifornien zu sein war zum einen schön und zum anderen mit so viel Stress verbunden, dass ich am liebsten zurück ins Flugzeug gestiegen und irgendwo ganz weit weg geflogen wäre.

Das Chaos, welches mir Kun am ersten Arbeitstag des neuen Jahres mit einem Schulterklopfen überließ, brachte mich beinahe an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Bestand diese Stadt nur aus Idioten, die nichts Besseres zu tun hatten, als Feuerwerkskörper auf Menschen zu schießen oder sie gleich in der Küche anzuzünden?

Durch diesen Berg an Arbeit zog sich meine Woche wie zäher Kaugummi dahin und ich fühlte mich so gerädert, dass ich beinahe mein Training geschwänzt hätte, um zuhause auf mein Bett zu fallen und nie wieder aufzustehen. Aber da ich mich nicht mit Kun anlegen wollte, der scheinbar noch gestresster und gereizter war als ich, raffte ich meine letzten Energiereserven zusammen und fuhr mit meinem neuen Wagen zum Boxstudio.

Dieses Gefühl der Freiheit war unbeschreiblich und zum ersten Mal seit Jahren – meine Eltern hatten mich seit meinem zehnten Geburtstag nicht mehr zum Training gefahren - musste ich für den Weg nicht mindestens eine halbe Stunde einplanen.

Neuigkeiten bezüglich der Frau, die einer Vergewaltigung nur knapp entgangen war, gab es bis jetzt noch nicht. Ich hatte ihr vergangenen Mittwoch eine E-Mail – ja, tatsächlich verfasste ich 2019 noch E-Mails – geschrieben und sie um ein Treffen gebeten. Natürlich nicht von Polizist zu Opfer, sondern von Frau zu Frau. Bis jetzt hatte sie sich noch nicht bei mir gemeldet und somit weder zugestimmt, noch abgelehnt.

Ich hoffte, dass sie mir bald eine Antwort geben würde, da ich mich in meiner Tatenlosigkeit so fühlte als würde ich auf glühenden Kohlen sitzen und auf den Moment warten, in dem ich mich erheben und von meiner Qual erlösen konnte.

***

Es hing eine graue Wolkendecke über dem sonst so blauen Himmel von Los Angeles, als ich zusammen mit Cole im Chocolate Pie saß und an meinem Kaffee nippte. Auch wenn ich meine Sucht nach dem koffeinhaltigen Getränk einige Zeit lang tatsächlich überwinden konnte, hatte ich durch die ganze Arbeit in der Station einen Rückfall erlitten und war wieder bei einer täglichen Dosis von mindestens fünf Tassen angekommen, um den Tag überhaupt einigermaßen fit zu überstehen. Wenigstens schmeckte dieser Milchkaffee hier besser als der ekelhafte Automatenkaffee auf Arbeit.

»Worüber denkst du nach?«, erkundigte sich Cole und ließ mich den Blick von dem trüben Januartag vor dem Fenster abwenden.

»Was meinst du?«, stellte ich als Gegenfrage.

»Immer, wenn dich etwas beschäftigt, kaust du auf deiner Lippe herum und ziehst die Stirn in Falten«, erklärte er mir und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Schnell hörte ich auf, auf meiner Lippe herumzukauen und setzte einen neutralen Gesichtsausdruck auf.

»Über nichts Besonderes. Ich habe auf deinen Rat gehört und der Frau geschrieben, aber ihre Antwort lässt noch auf sich warten«, offenbarte ich ihm den Grund für meine Nachdenklichkeit und fuhr mir dabei seufzend durch mein frisch gefärbtes Haar.

»Sie wird sich schon melden. Und wenn nicht, dann halt nicht«, meinte Cole schulterzuckend und ließ sich gegen die Lehne des Sessels fallen. Es war nicht viel los im Café, auch wenn das Wetter draußen eigentlich zu einem gemütlichen Nachmittag in einem hübschen Café einlud.

»Sehr aufbauende Worte. Hast du mal darüber nachgedacht, Motivationstrainer zu werden?«, entgegnete ich eine Spur zu bissig für meine Verhältnisse.

»Sorry, Tiger. Kein Grund, mich anzufauchen«, gab mein Gegenüber zurück und hob abwehrend die Hände. Ich seufzte ein weiteres Mal und nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Der süße Geschmack der Milch und das kräftige Aroma des Kaffees waren gerade genau das, was meine aufgewühlte Seele benötigte.

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt