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Noch an diesem Nachmittag rief ich Lia in Stanford an, die ohne zu zögern alle ihre Vorlesungen der nächsten Tage strich, um mit dem Auto zu mir nach Los Angeles zu fahren.

Und wenn meine beste Freundin ihre Vorlesungen ausfallen ließ und gleichzeitig die Hände an das Steuer eines Wagens legte, dann konnte man dies durchaus als eine unterschwellige Liebeserklärung interpretieren, da ihr Studium im Moment das Wichtigste für sie war und sie lange Autofahrten mehr verachtete als abgebrochene Nägel.

Jedenfalls war ich kurz nach dem Frühstück aus Coles Wohnung verschwunden, da zur Mittagszeit meine Schicht begann und ich mich zuvor noch duschen und umziehen musste. Ich stank wie eine Schnapsleiche und erst nachdem ich mir das dritte Mal die Zähne geputzt hatte, war der Geschmack des Alkohols aus meinem Mund verschwunden.

Außer Lia und Cole wusste niemand, dass ich gestern ein oder zwei Gläschen zu viel hatte und es lag auch nicht in meinem Interesse, meinen Arbeitskollegen von meinem gestrigen Malheur zu berichten.

Zu meinem Glück hielt sich mein Kater in Grenzen, sodass ich mich während der Arbeit nicht so fühlte als wäre ich vor nur wenigen Stunden gerädert worden.

Jedoch konnte ich nicht verhindern, mich bei einem Verhör mit einem betrunkenen Studenten, bei dem ich ihn über die negativen Konsequenzen von Alkohol aufklärte, ein wenig scheinheilig und peinlich berührt zu fühlen.

Mein Training mit Kun war dieses Mal die reinste Tortur gewesen und ich konnte feierlich sagen, dass ich den letzten Rest meines Martinis wieder ausgeschwitzt hatte und inzwischen wieder einen Promillewert von 0,0 erreicht haben musste.

Dementsprechend erledigt war ich in mein Bett gefallen und hatte nicht einmal ein Abendessen zu mir genommen, da ich mich dazu nicht mehr in der Lage gefühlt hatte.

Lia erschien zur Frühstückszeit und ich holte eine Tüte frische Brötchen von dem Bäcker um die Ecke. Während des Essens ließ ich mich von informatischen Fachbegriffen und dem neusten Campus-Tratsch berieseln und Lia schien es nicht zu stören, dass ich nur selten etwas einwarf. Es war interessant, was auf einer der besten Universitäten der Welt doch so alles vor sich ging.

Wenn ich jedoch ehrlich sein musste, wanderten meine Gedanken in eine ganz andere Richtung. Welches Verhältnis hatten Cole und ich zueinander? Natürlich waren wir Partner, ich würde sogar von Freunden sprechen, aber mehr war auch nicht zwischen uns, oder? Schließlich wollte ich nicht mal mit ihm ausgehen, oder doch?

Diesem Teufelskreis der Fragen konnte ich erst entfliehen, als Lia mir mit einer Hand vor dem Gesicht herumwedelte und mich so zurück in die Wirklichkeit holte.

»Mensch, manchmal glaube ich wirklich, dass deine Seele für wenige Minuten deinen Körper verlassen kann, so geistesabwesend wie du manchmal schaust«, sagte sie und schüttelte mit dem Kopf, behielt dabei aber eine ernste Miene.

»Wie lange warst du jetzt schon nicht mehr dort gewesen?«, fragte sie und musterte mich aufmerksam.

»Meine Eltern fahren jedes Jahr zu seinem Geburtstag ans Grab. Allerdings kam uns letztes Jahr etwas dazwischen, sodass inzwischen mindestens zwei Jahre vergangen sein müssen«, antwortete ich, während ich mit dem Löffel meinen sowieso schon durchgerührten Tee weiter in Bewegung hielt.

Lia wusste nicht so wirklich, was sie darauf erwidern sollte. Selbst als meine beste Freundin, die praktisch zur Familie McMillen dazugehörte, wusste sie wenig über den väterlichen Teil meiner Familie. Lediglich über die Tatsache, dass mein Onkel erschossen worden war, war sie sich im Klaren.

»Und du bist dir ganz sicher, dass Harrison im Gefängnis von diesem Onkel gesprochen hat?«, versuchte sie es weiter und ich hörte endlich auf, meinen Tee umzurühren.

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt