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Stöhnend zog ich den nächsten, weißen Umschlag aus dem Briefkasten unseres Hauses, auf dem fein säuberlich mein Name und unsere Adresse geschrieben stand.

Die geschwungenen Buchstaben hatten ein wenig Ähnlichkeit mit denen aus mittelalterlichen Büchern, die Mönche in Europa monatelang mit allerhöchster Konzentration niedergeschrieben hatten und die trotzdem heute kaum einer mehr lesen konnte.

Wenn ich ehrlich sein musste, kannte ich nicht einmal den Absender dieses Briefs. Seitdem in den Familien McMillen und Gold bekannt geworden wurde, dass ich mich erneut in große Schwierigkeiten gebracht und meine Haut schon wieder nur um ein Haar hatte retten können, erhielt ich plötzlich Briefe aus dem gesamten Land von Familienmitgliedern, von denen ich zuvor noch nie ein Sterbenswörtchen gehört hatte.

Weder kannte ich eine Großtante Patrizia aus Seattle, noch einen ominösen Dr. Cederic Plumpton-Clifford-McMillen, der sich als einer meiner Verwandten fünften oder sechsten Grades vorstellt und irgendwo in Montana mit seinen zwei Hauskatzen und einem freundlichen Waschbär lebte.

Die Anteilnahe an meinem Dilemma rührte mich zwar schon ein wenig, nur war die Tatsache, dass in nahezu allen Briefen der Inhalt bis auf ein paar kleine Änderungen der Identische war, ein wenig deprimierend. Mitleidsbekundungen alla ›Meine arme Kasey, das Geschehene muss schrecklich für dich gewesen sein.‹ und ›Dein Schicksal wünscht man wirklich keinem.‹ leiteten dabei jeden einzelnen der bisher fünfzehn eingetroffenen Briefe ein, die schließlich darin übergingen, wieso ich mich in solch fürchterliche Gefahr begeben hatte und das man von Glück sprechen konnte, dass man meine leiblichen Überreste nicht mit einer Pinzette vom Boden hatte aufsammeln müssen. Letzteres wurde vielleicht nicht in exakt diesem Wortlaut verfasst, aber es spiegelt den Kern der Aussage recht gut wider.

Letztendlich endeten alle Briefe doch damit, dass mehr meinen Eltern das aufrichtige Beileid meiner Verwandtschaft ausgesprochen wurde als mir.

Natürlich musste es für Mum und Dad grauenvoll gewesen sein, ihre einzige Tochter beinahe an einen Hochkriminellen zu verlieren; dass ein Vorfall ähnlicher Schwere sich bereits vor gut zwei Jahren zugetragen hatte, wussten scheinbar nicht alle meiner Verwandten, da es nur in der Hälfte aller Briefe auftauchte, dass ich bereits in der Vergangenheit dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen war.

Die Frage, warum mein Dad mir überhaupt erlaubt hatte, dem Job nachzugehen, den ihm bereits seinen Bruder gekostet hatte, ließ ich unkommentiert.

Mit einem resignierten Blick reichte ich den Brief meiner Mum, die ihre Lesebrille ein Stück nach unten schob und mich mitleidig ansah. Ich hatte aufgehört, mich mit den Inhalten der Briefe zu beschäftigen, da ich zum einen nicht wusste, von wem sie stammten und zum anderen kein geheucheltes Mitleid brauchte, um mich besser zu fühlen.

Ich ließ mich neben meinem Dad am Frühstückstisch nieder und schnappte mir eine Ausgabe des Los Angeles Courier, die neben Dads Kaffeetasse lag und somit in konstanter Gefahr schwebte, von dem heißen Getränk überschüttet zu werden. Bereits auf der Titelseite prangte ein übergroßes Bild der ehemaligen Lagerhalle, in der ich beinahe meinen besten Freund verloren hätte.

Die Betonung lag dabei auf dem Wort hätte. Ja, Kun war wieder aufgewacht. Es hatte zwar zwei weitere Tage gedauert und einige weitere Nervenzusammenbrüche gekostet, aber Kun war aus seinem dornröschenartigen Schlaf erwacht und erfreute sich nun langsamer, aber vielversprechender Genesung.

In dem Moment, in dem ich ihm überglücklich in die Arme gefallen war und Gott bereits dafür danken wollte, dass er Kun und seine übermäßig große Klappe doch noch an den Pforten des Himmels zum Umkehren gebracht hatte, flüsterte mir mein bester Freund etwas ins Ohr, das meinen Höhenflug prompt zum rapiden Sturzflug inklusive ernüchternder Bruchlandung brachte:

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt