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Für die Anzahl an Schimpfwörter, die mir in diesem Moment durch den Kopf schossen, hätte man mich im Kindergarten wohl in die Ecke gestellt, damit ich noch einmal die Chance bekam, intensiv über meine Wortwahl nachzudenken.

Jedoch war mein innerer Wutausbruch nicht unbegründet: Warum rief mich meine Mum an, wenn es erst halb sieben an einem Freitagmorgen war und sie zusätzlich einen ihrer seltenen, freien Tage hatte? Das ergab für mich schlichtweg keinen Sinn.

Natürlich könnte ich meine Mum auch einfach wegdrücken, nur war es so eine Sache, Joyclyn McMillen wegzudrücken. Meiner Mum wurde zwar der Spitzname Joy verliehen, den sie heutzutage überall – selbst im Arbeitsleben – benutzte, jedoch war diese Kurzform ihres Namens teils irreführend.

Es stimmte, dass meine Mum ein wahrer Sonnenschein war, der mit guter Laune durch den Tag schritt und sich vermeintlich von nichts die Stimmung ruinieren ließ, aber wenn es eine Sache gab, die sie überhaupt nicht abkonnte, dann war es, ignoriert zu werden.

Oh, es hatte schwere Zeiten gegeben, in denen mein pubertärer Trotz gegen ihre sogenannte ›richtige‹ Meinung gekracht und daraus als Konsequenz hervorgegangen war, dass ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen und sie stundenlang ignoriert hatte.

Mein Dad hatte in solch kriegerischen Zeiten immer das Haus verlassen und sich mit seinen Arbeitskollegen in einer Bar getroffen, um manchmal schon um drei Uhr nachmittags den ersten Whisky zu trinken.

Um die ganze Angelegenheit ein wenig abzukürzen: Ein Drache erschien im Gegensatz zu meiner Mum, wenn man ihr keine Aufmerksamkeit schenkte, wie eine zahme Schmusekatze. Genau deswegen überlegte ich einige Sekunden lang wirklich, ihren Anruf anzunehmen.

Meine Mum wusste, dass ich Cole vor einigen Stunden zum Flughafen geschafft hatte und wollte sich sicherlich erkundigen, ob ich bereits bei mir zuhause auf dem Badfußboden zusammengebrochen war und neben mir einen Taschentuchhaufen in der Größe des Kilimandscharo hinterließ.

Falls ich ihren Anruf jetzt ignorierte, würde sie sicherlich direkt zu mir nach Hause fahren und dann dort zu ihrer Bestürzung feststellen, dass ich nicht zuhause war und unnötig Zellstoff einweichte.

Wenn man das Netz dann nach den Vorstellungen einer hysterischen Mutter weiterspinnen würde, dann dachte sie vielleicht, dass ich mich aus Schmerz von einer Brücke gestürzt hätte; oder gegen ein Werbeschild gefahren wäre; oder mir anderweitig das Leben genommen hätte.

Mit diesen Bildern vor meinem geistigen Auge wischte ich, trotz Kuns energischem Kopfschütteln, nach rechts und stellte mein Handy sogleich auf die leiseste Stufe, damit die Worte meiner Mum nicht zu laut zu hören waren.

»Kasey, endlich. Ich dachte schon, dir wäre etwas zugestoßen«, begann meine Mum sofort, in ihrer mütterlichen Besorgnis auf mich einzureden. »Ich weiß, dass dieser Tag nicht einfach für dich sein muss, aber-«

»Mum, dein Anruf kommt gerade ein wenig ungünstig«, unterbrach ich sie so leise wie möglich und entfernte mich ein Stück von der Stelle, an der Kun und ich gehockt hatten.

»Ich weiß, wir hatten doch alle schon einmal Liebeskummer, dafür musst du dich nicht schämen«, redete sie munter weiter und schien gar keine Notiz davon gemacht zu haben, dass ich ungewöhnlich verhalten mit ihr sprach. »Wenn du willst, dann komme ich zu dir und wir-«

»Mum, ich kann gerade nicht«, zischte ich in den Hörer und meine Mum wurde augenblicklich still.

»Geht es dir nicht gut, Kasey?«, fragte sie nun hörbar alarmiert und ich atmete einmal schwer aus.

»Noch geht es mir gut, aber wenn ich weiter Zeit damit verschwende, meiner Mum zu erklären, dass gerade ein eher ungünstiger Zeitpunkt zum Telefonieren ist, dann habe ich vielleicht in wenigen Minuten eine Kugel im Kopf stecken und die Ehre, dass mein Geburtstag und mein Todestag auf das gleiche Datum fallen, nur mit einem Abstand von zwanzig Jahren.«

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt