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Familie war etwas Schönes. Eine Gruppe Menschen, bei denen man immer Rückhalt fand und die einen so akzeptierte und liebte wie man war. Familie bedeutete Zusammenhalt, Geborgenheit, Mitgefühl und Verbundenheit. Ich liebte meine Familie, ohne Frage. Jedoch bemerkte ich nach nur drei Tagen mit meinen Eltern, meinem Bruder und meinen Großeltern auf engstem Raum, dass mein Auszug seine Gründe gehabt hatte – fernab von der Arbeit.

Zwischen Noah und mir war Krieg ausgebrochen. Es war nicht unüblich, dass wir uns häufig in die Haare bekamen. Als ich noch bei meinen Eltern gewohnt hatte, war Streit zwischen uns beiden eher die Regel als die Ausnahme gewesen. Nur hatte unsere derzeitige Auseinandersetzung derartige Ausmaße angenommen, dass meine Mum die Notwendigkeit sah, einzuschreiten und uns für unser Fehlverhalten zu bestrafen.

Am Weihnachtsmorgen wurden wir daher dazu verdonnert, meiner Grandma beim Machen ihres phänomenalen Truthahns zu helfen, auf den ich mich jedes Jahr ganz besonders freute. Im Gegensatz zu meiner Granny und mir, die beide wirklich gern kochten, hielt sie die Freude bei meinem Bruder jedoch in Grenzen.

Missmutig und grimmig dreinschauend war er um sieben Uhr morgens in die Küche gestapft, um beim Schneiden des Gemüses, Schälen der Äpfel und Zubereitung der Marinade zu helfen. Alles war auch weitestgehend friedlich abgelaufen und man hatte beinahe meinen können, dass das Kriegsbeil zwischen meinem Bruder und mir tatsächlich begraben worden war. Zumindest bis die weiße Porzellanschüssel, ein Erbstück meiner Urgroßmutter, vom Tresen auf den Boden gefallen und der Schuldige für dieses Kapitalverbrechen gesucht worden war.

Die anfänglich leise Diskussion zwischen uns beiden war zu einem Streit ausgeartet, in dem nicht nur die Fetzen, sondern auch Zwiebelreste und Kartoffelschalen geflogen waren. Damit hatte unser Krieg die Schwelle des Verbalen überschritten und sich in einen physischen verwandelt, ohne Rücksicht auf Verluste und Tapeten. Wie man sich vielleicht vorstellen konnte, hatte unsere Grandma die Sache alles andere als lustig gefunden. In meinem gesamten Leben hatte ich sie nicht ein einziges Mal so wütend erlebt wie zu diesem Zeitpunkt.

Sie hatte geschrien, getobt und uns mit einem Kochlöffel in der Hand aus der Küche gescheucht, mit der Drohung, dass ihr in den nächsten Stunden besser nicht unter die Augen treten sollten.

Seitdem hatte unser geschwisterlicher Konflikt einen noch nie da gewesenen Höhepunkt erreicht. Noah und ich stritten uns permanent wegen jeder kleinsten Kleinigkeiten. Er ging mir auf die Nerven und ich ihm scheinbar noch mehr als ich ihm. Meine Eltern standen ratlos zwischen den Fronten und Lia hatte die weise Entscheidung getroffen, keine Partie in dieser Familienfehde zu ergreifen.

Und auch wenn mein Bruder und ich uns jedes Mal, wenn wir den anderen zu Gesicht bekamen, mit unseren Blicken erdolchten, musste ich zugeben, dass ich trotzdem recht gute Laune hatte. Sei es die Tatsache, dass ich meine Großeltern – auch wenn Grandma immer noch etwas angefressen war – jeden Tag sehen konnte oder viel mehr Zeit mit Lia verbringen konnte als sonst. Ich hatte mich selten so entspannt gefühlt wie die letzten Tage.

Zudem war ich nach meinem Gefecht mit Noah in der Küche einige Stunden später, als Grandma unsere Nähe wieder toleriert hatte, beinahe in Tränen ausgebrochen. Als ich im Inneren meines Weihnachtsstrumpfes ein kleines Kästchen vorgefunden hatte, hatten sich meine Augenbrauen erst einmal skeptisch zusammengezogen. Vorsichtig hatte ich den dunkelblauen Deckel geöffnet und mir sogleich die Hand vor den Mund geschlagen, damit dieser nicht meilenweit offenstand. Im Innersten hatte sich nicht etwa teurer Schmuck befunden, sondern ein Schlüssel – besser gesagt: Ein Autoschlüssel.

Ehrfürchtig hatte ich den schwarzen Schlüssel herausgeholt und über das silberne ›Toyota‹-Logo gestrichen. Ungläubig hatte ich meine Eltern angesehen, die mir beide zugelächelt hatten.
»Ist das für mich?«, hatte ich mit Tränen in den Augen gefragt. So war ich zu meinem ersten, eigenen Auto gekommen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, es mir von meinem eigenen Geld selbst zu kaufen, jedoch musste ich dafür erst einmal Geld sparen und auch wenn ich recht gut verdiente, brauchte das seine Zeit.

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt