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Kun aus dem Weg zu gehen gestaltete sich schwieriger als angenommen. Es war einfacher, jemanden zu meiden, dem man nicht beinahe jeden Tag acht Stunden auf der Arbeit und anschließend zwei weitere im Boxstudio begegnete.

Seine Gewissensbisse schienen ihn förmlich aufzufressen, doch ich blieb auf Distanz und zeigte kein Anzeichen auf Versöhnung. Wenn er dachte, dass ich ihm nach seinen verletzenden Worten so schnell verzeihen würde, dann hatte er sich wirklich geirrt.

Jedenfalls war die letzte Woche einer der wohl schlimmsten meines Lebens. Jeden einzelnen Tag wurden wir zu irgendwelchen Notfällen gerufen, die sich im Nachhinein jedoch als unnötige Kleinigkeiten herausgestellt hatten und der Bezeichnung Notfall nicht gerecht wurden.

Sicherlich war keiner dieser Einsätze für die betroffenen Personen unnötig, aber mit der Zeit konnte ich keine Ehekrise mehr sehen, wegen denen die Nachbarn vorsichtshalber die Polizei gerufen hatten, um schlimmeres zu verhindern.

Noch deprimierender als mein Arbeitsleben und die Funkstelle mit Kun war jedoch etwas ganz anderes: Nach all den bisherigen Ermittlungen schien die Spur rund um Gideon Roberts ins Nichts zu gehen. In den letzten Tagen hatte ich in meinen freien Minuten versucht, mehr über ihn herauszufinden.

Das einzige Problem bestand nur darin, dass niemand etwas über ihn zu wissen schien. Weder unsere Datei konnte wirklich etwas mit ihm anzufangen, noch waren mir die ehemaligen Arbeitskollegen meines Onkels in der Lage, mir weitere – und vor allem aktuelle – Informationen über ihn zu liefern. Seitdem er seinen Dienst bei der Polizei beendet hatte, schien er wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Merkwürdigerweise existierte die Adresse, die als sein derzeitiger Wohnsitz angegeben war, gar nicht. Zuerst dachte ich, dass es sich dabei um einen Fehler im System handelte, doch als ich an einem Nachmittag mit dem Bus in die Gegend außerhalb der Stadt fuhr, bestätigte sich, dass es das Haus mit der Nummer 43 gar nicht gab.

Genauso wenig gab es irgendwelche Verwandten oder Bekannten, die mit ihm in Verbindung standen. Er war praktisch wie ein Phantom, welches nur in Erzählungen und auf alten Fotos existierte und seit Jahren von keiner Menschenseele mehr gesehen worden war.

Dieser Umstand und mein Streit mit Kun führten dazu, dass ich unendlich frustriert und gleichzeitig überaus reizbar war. Selbst der Sport, der mittlerweile neben der Arbeit den kompletten Rest meiner Zeit einnahm, half nicht dabei, meinen aufgewühlten Geist zu beruhigen.

Statt der Normalität, bei der sich meine Energie, Aggression und Frustration mit jedem Schlag und Tritt, den ich dem Boxsack schenkte, abbaute, fühlte ich mich gleichermaßen innerlich aufgewühlt und angespannt wie zuvor.

Lia konnte ich im Moment nicht erreichen, da sie mitten in ihren Prüfungsvorbereitungen steckte und ich sie dabei nicht stören wollte. Schließlich ging es um ihre Zukunft, auch wenn ich in Wirklichkeit glaubte, dass sie ihre Tests auch im Schlaf bestehen würde.

Gleichermaßen unhilfreich stellte sich auch Cole heraus. Ich hatte es einmal gewagt, ihn anzurufen, doch die Art und Weise, wie er am Telefon geklungen hatte, war nicht gerade einladend und anregend gewesen. Scheinbar stresste ihn sein neuer Vorgesetzte mehr als unbedingt notwendig war und ich hatte ihn noch nie so missmutig und übellaunig erlebt.

Kurzum schien nicht nur ich eine Art Lebenskrise zu haben, sondern auch alle meine Freunde. Wirklich zu einer Hebung meiner Laune trug dies nicht gerade bei, aber wenigstens ging es nicht nur mir so schlecht. Wenigstens ein kleiner Trost.

Mit einem harten Schlag gegen meine Nase kam ich zurück in die wirkliche Welt zurück. Leise vor mich hin fluchend rieb ich mir über das Gesicht und hielt den noch immer schwingenden Boxsack fest, damit er mir nicht noch einmal versuchte, die Nase zu brechen. Es war echt nicht meine Woche, so viel stand fest.

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt