Einen Moment lang starrte ich sie so an als wären ihr gerade Flügel oder Widderhörner gewachsen. Wie hatte ich sie auf Anhieb nicht erkennen können? Es waren nicht einmal anderthalb Jahre seit unserem Schulabschluss vergangen und sie sah noch so ziemlich genauso aus wie an unserem letzten Schultag.
Wie hatte ich nicht begreifen können, dass ich Chloe vor ihrem Chef verteidigte? Möglicherweise brauchte ich doch in nächster Zeit eine Brille.
Ihre langen, braunen Haare reichten ihr beinahe bis zum Bauchnabel und ihre blauen Augen wirkten weniger glasig als noch wenige Minuten zuvor. Jetzt, wo ich sie zum ersten Mal richtig anschaute, musste ich zugeben, dass ich sie ziemlich hübsch. Es war kein Wunder, dass Cole etwas für sie übrig gehabt hatte.
»Ja, es ist schon eine Weile her«, stelle dich daraufhin dumm fest und schlug mir innerlich gegen die Stirn. »Was war das für eine Szene vor dem Kiosk?«, fragte ich ablenkend nach dem eigentlichen Grund, warum ich sie mit hierher genommen hatte. Prompt biss sie sich auf die Lippe und bewies ein weiteres Mal, wie bravourös sie im Schweigen war.
»Hör zu, du kannst mit mir darüber reden und ich werde dich für nichts verurteilen. Wenn du sagst, dass du das Geld nicht gestohlen hast, dann versuche ich alles, um deine Unschuld zu beweisen«, versuchte ich, sie gefühlvoll zum Reden zu bringen.
»Ich habe das Geld nicht gestohlen«, erwiderte sie augenblicklich mit erstaunlich fester Stimme. »Es ist nur...«, brach sie ab und wischte sich eine Träne weg, die über ihre Wange rollte.
»Es ist nur was?«, hakte ich nach und sah sie so ruhig und verständnisvoll wie möglich an.
»Es ist nur, dass ich nicht die Wahrheit sagen kann«, schluchzte sie nun einmal auf. Diese Sache schien eine noch tiefergreifende Geschichte zu haben als ich erwartet hatte.
»Erpresst dich jemand?« Ihr Kopf wippte leicht nach vorn und ich identifizierte diese Geste als ein Nicken.
»Wer?«, fragte ich sie ernst und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Wer auch immer Chloe erpresste, der würde nun, da ich mich dieses Falls angenommen hatte, sein blaues Wunder erleben und seine Tat schneller bereuen als er blinzeln konnte.
»Mein... Arbeitskollege«, antwortete sie mir zögerlich und hielt sich die Hand vor den Mund, damit nicht das gesamte Café davon mitbekam, dass sie weinte.
»Wie heißt dieser Arbeitskollege?« Ich schnappte mir den Block und Kugelschreiber aus der Innentasche meiner Jacke, die ich rein zufällig ohne zu bezahlen eingesteckt hatte und ließ die Mine klickern.
Als ich bemerkte, wie sie sich unter meinem brennenden Blick anspannte, wandte ich diesen schnell ab und sah für einen Moment aus dem Fenster, bevor ich einen sanfteren und weniger fordernden auflegte und wieder in ihre Richtung schaute.
»Daniel Stevens.« Meine Augenlider fuhren zusammen und einen Moment lang fragte ich mich, warum ich heute Morgen überhaupt aufgestanden war.
Ich wurde auf der Arbeit beinahe von einem Betrunkenen mit unangenehm riechenden Körperflüssigkeiten übergossen, wobei es noch nicht einmal elf Uhr mittags gewesen war, meine Nase schmerzte noch immer von dem Schlag, den mir der lebendig gewordene Boxsack verpasst hatte, Jong-In hatte mir das schlimmste schlechteste Gewissen seit Jahren eingeredet und jetzt erpresst mein nichtsnutziger Ex-Freund auch noch eine meiner ehemaligen Mitschülerinnen. Der einzige Gedanke, der sich dabei in meinem Kopf manifestierte, war der, dass ich heute doch besser zuhause geblieben wäre.
»Ist etwas?«, fragte mich Chloe unsicher, während ich mir frustriert durch die Haare fuhr und den Kugelschreiber zur Seite legte.
»Lass mich raten: Er belästigt dich und klaut Geld aus der Kasse, droht dir, damit du die Klappe hältst, mit irgendwelchen alten Fotos, auf denen du womöglich nackt bist. Bevor du irgendetwas sagst«, unterbrach ich sie, bevor sie etwas sagen konnte. »Die Fotos sind bearbeitet und der Körper ist gar nicht deiner, stimmt's?«
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Kasey McMillen
HumorSein Blick streifte mein Gesicht für einen Moment, bevor er sich weiter umsah. Doch dann drehte sich sein Kopf ruckartig zurück und er musterte mich von oben bis unten. Und da erkannte auch ich, wer da vor mir stand. »Cole Banks?«, kam es aus meine...