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Mein Blick galt größtenteils Lia, die noch immer zitternd und mit einer Tasse Kakao in der Hand auf einem Drehstuhl in der Polizeibehörde saß, in der ich arbeitete. Es war furchtbar, sie so zu sehen. Erst wenigen Minuten zuvor hatte sie aufgehört zu weinen, jedoch konnte man deutlich die verbliebenen Tränenspuren auf ihren geröteten Wangen erkennen.
Ich fühlte mich als hätte man mir mit einem dicken Knüppel auf den Kopf geschlagen und anschließend Steine in meinen Bauch gelegt, die mir ein gleichermaßen flaues sowie schweres Gefühl bereiteten.

Der Fund der toten Frau schien Jahre in der Vergangenheit zu liegen, während mir die Uhr über der Tür des Polizeireviers verriet, dass gerade einmal zwei Stunden vergangen waren. Als die Polizei inklusive Rettungswagen am Tatort eingetroffen war, musste sie das Bild, das sich ihnen geboten hatte, wohl an einen Horrorfilm erinnert haben: Eine blutverschmierte Leiche, die halb entkleidet auf dem kalten Boden lag und zwei Frauen, von denen eine Tränen vergoss wie ein Wasserfall und die andere der Toten in puncto Gesichtsfarbe kein bisschen nachstand.

Ich hatte schon als Kind Krimiserien und Thriller geliebt und selbst in Szenen, die meinen bärenartigen Dad in die Knie gezwungen und zum Verlassen des Raums gebracht hatten, meine Augen nie geschlossen oder meinen Kopf unter einer Decke versteckt. Abgetrennte Gliedmaßen oder Blutbäder auf dem Fernsehbildschirm waren für mich genauso gruselig wie Katzenvideos im Internet. Es war jedoch eine ganz andere Sache, selbst ein derartig grausames Verbrechen im wahren Leben zu sehen.

Inzwischen war ich zwar wieder ein wenig zur Ruhe gekommen und hatte nicht mehr die Färbung eines weißen Wanderers aus Game of Thrones, sobald ich jedoch die Augen schloss, tauchte wieder das starre Gesicht und die weit aufgerissenen Augen der Frau vor mir auf.
Solche Geschehnisse gehörten zwar zu meinem Beruf und ich konnte nicht wegen jeder einzelnen Leiche, die ich in meinem Leben noch zu Gesicht bekommen würde, Gefahr laufen, bis an mein Lebensende Albträume zu haben, jedoch war die Erste sicherlich auch die schlimmste. Somit hatte ich ein gewisses Recht darauf, schockiert zu sein.

Wer jetzt aber mehr seelischen Beistand brauchte als ich, war meine beste Freundin, die seit unserer Ankunft im Revier nichts mehr gesagt hatte. Vorsichtig trat ich an Lia heran und nahm ihr die Tasse Kakao aus der Hand, die inzwischen kalt geworden war. Dass sie mit ihren zitternden Händen nichts verschüttet hatte, blieb mir ein Rätsel.

»Wie geht es dir?«, fragte ich sie so ruhig wie möglich, hockte mich auf den Boden und nahm ihre Hände in meine. Während meiner – offen zugegeben, kurzen – Ausbildung hatte ich gelernt, dass man Menschen, denen ein solch traumatisches Ereignis widerfahren war, am besten mit Ruhe und ohne großen Druck langsam entgegenkommen sollte. Da Lia und ich eine persönliche Verbindung teilten und sie nicht einfach eine Fremde für mich war, fiel es mir jedoch schwer, meine eigenen Gefühle zurückzuhalten und die Selbstbeherrschung, die diese Situation erforderte, aufzubringen.

»Wie soll es mir schon gehen?«, flüsterte sie und ich konnte erkennen, wie ihr erneut die Tränen in die Augen stiegen. »Die Frau war so alt wie wir. Das hätten auch wir sein können, die dort gelegen haben. So betrunken wie wir waren, wären wir sicher leichte Beute gewesen.«

Ich strich ihr behutsam über das Knie und versuchte, mir irgendwelche ermutigenden und stärkenden Worte einfallen zu lassen. Dass es mir gerade jetzt an diesem Vokabular mangelte, war sicherlich unpraktisch, aber nachvollziehbar.

»Es tut mir leid, dass du das sehen musstest«, erwiderte ich schließlich, da mir nichts Besseres eingefallen war. Wie auch, wenn Lias Worte mich beinahe mit Wahrheiten erschlugen, die ich nicht abstreiten konnte.

»Du kannst ja nichts dafür«, entgegnete Lia. »Du hast sie ja nicht umgebracht.« Recht hatte sie damit durchaus, jedoch hätte ich dieses unschöne Aufeinandertreffen mit ein wenig mehr Überlegung verhindern können – oder ohne großes Nachdenken sogar ein Leben retten können. Was ich alles hätte tun können, um bestimmte Situationen zu vermeiden, spielte nur jetzt keine Rolle mehr; das Kind war in den Brunnen gefallen und leider bereits ertrunken.

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt