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Falls sich jemals irgendeine Person auf dieser Erde gefragt hatte, wie schwer es denn sein konnte, einen bestimmten Menschen ohne irgendwelche klaren Anhaltspunkte in einer Stadt mit einer Bevölkerung von knapp sechs Millionen Individuen ausfindig zu machen, so konnte ich nun endlich eine Antwort auf diese wirklich existentielle Frage geben:

Es war schwerer als eine Nadel in einem Heuhaufen zu finden, der die Größe der ganzen Vereinigten Staaten von Amerika aufweisen konnte – alternativ konnten Mexiko und Kanada ebenfalls dazugerechnet werden. 

Ich war bereits von klein auf nicht mit dem Persönlichkeitszug ›geduldig‹ gesegnet worden. Meine Mum hatte früher versucht, mir mit allen Mitteln wenigstens ein geringes Maß an Geduld anzutrainieren, jedoch waren ihre Bemühungen nie auf fruchtbaren Boden gefallen.

Sie hätte genauso gut versuchen können, mir als Baby Schachspielen oder Chinesisch beizubringen und wäre damit vermutlich sogar noch erfolgreicher gewesen.

Dabei meinte ich nicht Geduld im Sinne von Ausdauer oder Langatmigkeit – diese Eigenschaften hatte mir Kun wortwörtlich über Jahre hinweg eingeprügelt -, sondern die, die unter die Devise ›Abwarten und Teetrinken‹ fiel oder bei der das Aufwand- und Nutzenverhältnis zugunsten von ersterem verschoben war.

Diese beiden Punkte lösten bei mir ein gewisses Maß an Frust und Unzufriedenheit aus, die meistens darin resultierten, dass ich schlechte Laune und Kopfschmerzen bekam.

Letzteres mag am heutigen Tag zwar noch auf sich warten lassen, jedoch konnte man bereits seit etwa zwei Stunden an den Falten in meiner Stirn und den heruntergezogenen Mundwinkel erkennen, dass mein Gemütszustand als alles andere als fröhlich und entspannt beschrieben werden konnte.

Der Grund für meine angespannte Gefühlslage ließ sich jedoch ziemlich einfach erklären: 

Seit geschlagenen Stunden saß ich an meinem freien Tag auf Arbeit an meinem Schreibtisch und arbeitete mich durch ein Register aus Gesichtern, Adressen und Bildern von Überwachungskameras. Mein Gehirn lief auf Hochtouren und meine Augen brannten von dem unangenehmen Flimmern des Bildschirms.

Meine Kaffeetasse war inzwischen das sechste Mal neu befüllt und beinahe wieder vollständig geleert worden und ich spürte allmählich, wie das Koffein mich nicht mehr aufputschte und wach machte, sondern meine Müdigkeit und Erschöpfung weiter anregte – und langsam Bauchschmerzen verursachte.

Warum diese ganze Tortur an einem Tag, den ich eigentlich für mich und mein Wohlergehen nutzen sollte? Die Antwort darauf war, dass Cole mich damit beauftragt hatte, mir Kameraaufnahmen anzusehen und Personalien durchzugehen, an die er nicht herankam, die ich jedoch aufgrund meiner Berufung als Diener des Staates betrachten durfte.

Da unser neu gegründetes Team Initiative von beiden Seiten verlangte und ich an keinem anderen Tag die Zeit gefunden hätte, um meinen Teil zu unserer Sache beizutragen, musste ich wohl oder übel meine Freizeit dafür opfern. Außerdem war es genauso in meinem Interesse wie in seinem, diesen potenziellen Zügen ausfindig zu machen.

Bisher erfahren hatte ich folgendes: Ab einem bestimmten Punkt, ein bis zwei Straßen vom Tatort entfernt, war unser unbekannter Zeuge von keiner Überwachungskamera mehr erfasst worden; hatte sich förmlich in Luft aufgelöst.

Geschlussfolgert hatte er irgendwo zwischen zwei Aufnahmen in einem Wohngebäude verschwinden müssen, da alle öffentlichen Gebäude der Gegend wegen der teils hohen Kriminalität in puncto Einbrüchen videoüberwacht waren.

Daher durchforstete ich seit einer geraumen Zeit die Personalien aller Einwohner in dieser Umgebung, deren physische Erscheinung in etwa mit der ungenauer des Zeugen übereinstimmte. Obwohl die Downtown im Gegenteil zu anderen Ortsteilen nur spärlich bewohnt war, so stellte ich fest, dass neben mir doch nicht gerade wenige Menschen im Geschäftsviertel von Los Angeles lebten.

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt