Eis 1.3

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Okay, ich hatte doch schon einmal so viel Blut gesehen.

Als mir selbst die Nase gebrochen wurde.

In der Ecke des Raums saß ein Mann, der sich ein Tuch vor das Gesicht hielt. Das musste mal weiß gewesen sein und war jetzt, außer an den Rändern, in verschiedenen Rottönen gefärbt, da das Blut an manchen Stellen bereits getrocknet war. Vor ihm auf dem Boden hatte sich eine kleine Pfütze gebildet und eine Spur von Tröpfchen schlängelte sich in meine Richtung und an mir vorbei in die Empfangshalle.

Aber, wie gesagt, meine Knie gaben nach und ich sackte nach unten.

Das war auch der einzige Grund, warum die Metallstange, die auf mich zusauste, mit einem Krachen, statt meinem Kopf nur die Tür traf.

Den Kerl, der sich am anderen Ende der Stange befand, kannte ich. Sergej. Neben ihm stand Dimitri, den ich ebenfalls kannte. Zu meinem Glück erkannten sie mich auch und es folgte kein weiterer Schlag.

Peter und Max packten mich von hinten unter den Armen und halfen mir wieder auf. Als ich mein eigenes Blut gesehen hatte, war mir nicht so schlecht geworden. Das passierte nur, wenn ich das anderer sah.

Oder bei Spritzen. Egal, ob ich von ihnen las, sie im Fernsehen sah oder sie an mir Anwendung finden sollten. Noch etwas, das heute auf der Liste der Sachen landen würde, die ich nicht mochte. Vielleicht hatte Klara doch nicht so unrecht.

"Sorry, wir dachten, ihr wärt jemand anderes", sagte Dimitri und stützte sich auf der Stange ab.

"Wen habt ihr denn erwartet?" Peter schob mich behutsam in den Raum hinein, damit ich nicht länger den Eingang blockierte.

"Seht ihr den da?" Sergej zeigte mit dem Daumen auf den Mann in der Ecke. "Der wurde draußen von Schlägern angegriffen. Unsere Gang war es übrigens nicht."

Dimitri und Sergej waren Brüder und ihre Gang war eigentlich gar keine. Eine Gruppe russischer Jugendlicher, die sich am Wochenende spät abends in der Innenstadt traf und sich die Kante gab. Irgendwann waren sie aber mal mit der örtlichen Motorradgang aneinandergeraten. Die Presse hatte ein Drama daraus gemacht und das Ganze als Bandenkrieg betitelt. Im gleichen Zug hatte sie die Polizei runter gemacht, die der Presse nach bei all der Gewalt in der Stadt nur hilflos zusehen konnte. Das blieb haften und die Jugendlichen bezeichneten sich seitdem stolz selbst als Gang.

"Dann waren es die Biker? Seid ihr auch vor dem Sturm geflüchtet?", fragte ich. Ich riss mich zusammen und stand wieder auf eigenen Beinen.

Nur nicht das Blut ansehen. Augen zu und tief einatmen und wieder ausatmen.

"Wahrscheinlich waren sie es. Die nutzen jede Gelegenheit, um für Chaos zu sorgen. Jetzt können sie nicht rumfahren, da sind sie bestimmt richtig mies drauf", antwortete Sergej. Er war der jüngere der beiden Brüder. Musste jetzt 18 oder 19 sein. Kurze schwarze Haare, athletisch gebaut. Hätte er mich mit der Stange erwischt, würde mir jetzt gewaltig der Kopf brummen. Falls ich noch bei Bewusstsein gewesen wäre. Oder der Kopf noch auf meinem Hals.

"Unsere Mama liegt im Krankenhaus, deswegen sind wir hier", fügte Dimitri hinzu. Er war zwei Jahre älter als Sergej und hatte, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, ein paar Pfunde zugelegt. Aber wirklich dick war er trotzdem nicht. Früher waren sie sich so ähnlich gewesen, dass ich zweimal hinsehen musste, um zu wissen, wer von beiden wer war. Damals wohnten wir im gleichen Haus. An ihre Mutter konnte ich mich nur noch vage erinnern.

"Oh, tut mir leid", sagte ich mit geschlossenen Augen.

"Sie ist schon so gut wie entlassen. Wenn ich raus schau, geht es ihr heute besser als den Meisten. Aber danke." Dimitri senkte die Stimme und fuhr dann fort. "Als es angefangen hat zu schneien, ist noch ein Pärchen eingeliefert worden. Die wurden angeblich von wilden Tieren angefallen. Sahen übel aus." Dimitri verzog das Gesicht. "Wildkatzen! Wahrscheinlich hat es mal wieder jemand lustig gefunden, die Hunde im Tierheim aus den Zwingern zu befreien. Und bei dem Wetter sind die dann durchgedreht."

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt