Der Geruch seines synthetischen Mittagessens war verflogen. Sein Name lag ihm noch auf der Zunge, aber er fiel ihm einfach nicht ein. So sehr er sich auch bemühte, er kam nicht darauf. Er wusste, dass er den Namen des Geschmacks kannte oder irgendwann einmal gekannt hatte, das war es aber auch schon.
Es war nicht nur die Erinnerung an so Banalitäten wie den Namen seines Essens. Vieles andere zog an ihm vorbei und entglitt dem Griff seiner Erinnerung. Die Namen der Menschen, die ihn umgaben. Die Gesichter derjenigen, die ihm eigentlich am nächsten stehen sollten. Er wusste, dass er Eltern hatte, das hatte schließlich jeder, konnte sich aber an nichts erinnern, das sie ausmachte. Als läge die Tatsache seiner Kindheit Äonen zurück. Aber wenn er sein Gesicht im Spiegel erblickte, war es unbestreitbar, dass er noch fast ein Kind war.
Im Gegensatz dazu flogen ihm andere Sachen einfach zu. Wie die Funktion des Apparats, den er gerade eben in seinen Händen hielt. Er wusste, wenn er den Regler an der rechten Seite bis zur Hälfte nach vorne schob und dann den Auslöser drückte, würde sich das Geröll vor ihm in einen Haufen Staub verwandeln. Schob er ihn ganz nach vorne, konnte er danach in eine Kuhle hüpfen, die ihm bis zu den Schultern reichte.
Er hatte den Apparat noch nie in seinem Leben gesehen, das glaubte er zumindest, dennoch wusste er, was er zu tun hatte. Er wusste es nicht sofort, aber wenn er Hand an die einzelnen Hebel und Rädchen legte, sah er ein Bild im Kopf, sah genau, was passieren würde. Ohne jedoch die Namen der Funktionen zu kennen. Das machte es nicht leicht, den Soldaten die Funktion zu erklären. Er musste jedes Gerät vorher selbst ausprobieren und ihnen die Funktionsweise demonstrieren. Sie zeigten sich geduldig und schließlich hatten sie die nützlichen Apparaturen aussortiert und den Rest wieder im Raum mit den großen Glasbehältern platziert.
Ob es eigentlich Waffen und gar keine Werkzeuge waren? Die Wirkung war auf Menschen sicher genauso verheerend. Jetzt aber ebnete die Waffe in seiner Hand den Weg durch die Ruinen der Stadt. Ginge es normal zu in dieser Welt, würde er diesen Apparat sicher nicht so einfach mit sich herumtragen. Dann hätte ihn allein der Gedanke, ihn einmal aus der Nähe betrachten zu können, in Aufregung versetzt. Das hier war aber ein harter Job, der nur wenig mit Spaß und Experimenten gemein hatte. Er half den Soldaten, damit sie ihm helfen konnten.
Die Frau im weißen Schneeanzug ... er konnte sich ihren Namen nicht merken. Ein rotes Kreuz war auf ihre Kleidung genäht und sie hatte etwas mit Medizin zu tun. Rettete Menschen. Er hatte es fast.
Dann war die Eingebung wieder weg. Rotkreuz. Er benutzte Codewörter für Sachen, die er sich merken wollte. Wenigstens manche Informationen behielt er so im Gedächtnis. Ihr Codewort war Rotkreuz, da das ein sichtbares Merkmal an ihr war, mit dem er sie in Verbindung bringen konnte.
Rotkreuz hatte ihm gesagt, dass er sich wieder erinnern würde, wenn der Riesenzylinder verschwunden war. Die Soldaten halfen dabei, den Zylinder verschwinden zu lassen. Genauso, wie Eisenarm, Handschuh und Hörnchen. Er mochte Rotkreuz nicht, wusste aber nicht warum. Nur dass es richtig war, sie nicht zu mögen.
Er pulverisierte Eis und Geröll und gab so den Weg zu einem Autowrack frei. Ein Soldat notierte das Kennzeichen des Autos. Das tat er bei jedem Fahrzeug, bei dem es noch zu erkennen war. Danach zerlegten zwei andere Soldaten das Wrack mit ihren Lasern in kleinere Stücke, trennten das Verwertbare vom Schrott.
Moritz konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Arbeit auf diese Weise noch in diesem Jahrhundert zu beenden war. Aber vielleicht konnten sie so eine oder zwei Etagen reparieren. Das musste einen Unterschied machen, sonst hätten die wichtigen Leute sie nicht losgeschickt.
Sie luden die erbeuteten Stücke auf ihr Fahrzeug, das jetzt so weit gefüllt war, dass sie zum Zylinder zurückkehren mussten. Er stieg mit in die Führerkabine, setzte sich neben einen der namenlosen Soldaten und wurde durch den Ruck der Anfahrt in den Sitz gedrückt. Den Apparat hatte er gesichert über seine Oberschenkel gelegt, da im Fußraum kein Platz dafür war.
Die Rückfahrt zum Zylinder war einfacher als der Weg hierher, bei dem er alle paar Meter aussteigen und das Gelände einebnen musste. Das Fahrzeug war zwar für widriges Gelände geschaffen, tat sich aber bei der Fahrt durch Wracks und Ruinen dennoch schwer.
Er merkte, dass er gedankenlos in die Gegend gestarrt hatte, als die Soldaten zu fluchen anfingen. Vor dem Eingang des Zylinders war Chaos ausgebrochen. Eine weiße Gestalt wütete unter den Soldaten, die versuchten, ihm den Eintritt zu verwehren. Eisenarm lag ein paar Meter im Schnee entfernt, erkennbar durch sein Markenzeichen, das er in diesem Moment in die Höhe streckte, um irgendwo Halt zu finden.
Moritz war bereits auf diese Gestalt getroffen. Ein kurzes Treffen, das ihn einige Stunden bewusstlos zurückgelassen hatte. Aber was machte es schon für einen Unterschied, ob er bewusstlos war oder bei Bewusstsein und doch kaum etwas davon festhalten konnte? Die anderen hatten der Gestalt den Namen Eiszombie gegeben, weil er eigentlich tot sein musste, so oft, wie er von Kugeln durchsiebt worden war. Selbst von einer Ruine wurde er begraben und stand dennoch wieder vor ihm.
Rotkreuz hatte ihm erklärt, warum es so war und gefragt, ob es auf dem Schiff eine Waffe gegen ihn gab. Er hatte natürlich keine Ahnung gehabt, daraufhin war sie wütend geworden. Er sollte doch einfach mal alle Waffen ausprobieren. Aber so funktionierte das nicht. Nur, wenn er dem Eiszombie mit einer Waffe gegenüberstand, würde er es erkennen. Da er nichts tun konnte, hatte er sich den Rest nicht gemerkt.
Jetzt stand er ihm gegenüber und hatte nur diesen einen Apparat. Ob er etwas bewirkte? Er stieg aus dem Wagen und die Soldaten versuchten vergeblich, ihn aufzuhalten.
Er legte mit seinem Apparat auf den Eiszombie an und stellte die Streuung so ein, dass er ihn auf keinen Fall verfehlen würde. Als er ihn im Visier hatte, merkte er, dass er genau diese Szene bereits durchlebt hatte.
Er wusste, dass er ihn nicht aufhalten konnte. Nicht nur das. Er erkannte, dass das alles ein riesiger Fehler war. Sie standen auf der falschen Seite. Nicht nur, dass er sich in genau diesem Moment auf der falschen Seite der Tür befand. Nein, sie alle kämpften für das falsche Ziel und würden dafür bezahlen. Sie waren die Bösen, der Eiszombie war der Gute. Es gab keine Möglichkeit, es denen zu sagen, die sich im Inneren des Schiffes aufhielten. Selbst wenn er es durch die Tür schaffte, änderte das nichts an ihrem unausweichlichen Schicksal.
Seine Erinnerung kam jetzt wieder. Auf einen Schlag. Einige Momente würde er sie noch auskosten können, dann würde sein kurzes Leben zu Ende sein.
Er senkte das Werkzeug und blickte dem Eiszombie hinterher, wie er durch die Luke an Bord stieg. Einen Moment später sah er Sergej, der ihn erst ungläubig und dann zornig anstarrte, bevor auch er im Dunkel der Tür verschwand. Dann passierte das, was er erwartet hatte.
Eine leichte Druckwelle ging vom Zylinder aus und die Luft knisterte. Auf dem Äußeren des Schiffs bildeten sich weiße Flecken, die anwuchsen, bis sie die ganze Hülle bedeckten. Dann begann die Erde, zu beben und sich zu spalten und rings um das Schiff brachen Eiskristalle aus dem Boden. Die Soldaten, die noch laufen konnten, suchten das Weite. Sie versuchten es zumindest.
Als ob sie eine eisige Hand gepackt hätte, wurden sie am Boden festgehalten. Zuerst gefroren ihre Beine, dann kroch die Eisschicht den Rest ihres Körpers nach oben. Einer der Soldaten starrte Moritz an, mit Schrecken in den Augen, dann flehend. Aber er konnte nichts tun. Er selbst war ja genauso verloren.
Er streckte seine Hand aus und betrachtete sie. Wie sich zuerst Eiskristalle an den Fingerspitzen bildeten, die dann zu Klumpen wurden. Das hatte er anders in Erinnerung. War er damals, so wie die Soldaten, um sein Leben gerannt? Wahrscheinlich. Aber entkommen war er nicht. Deswegen wusste er, dass es auch jetzt keinen Sinn hatte.
Er spürte seinen Arm nicht mehr und seine Beine waren taub. Warum musste er das ein weiteres Mal durchleben? Die Stellen, die das Eis noch nicht erreicht hatte, kribbelten. Wenigstens seine Nerven versuchten, dem Eis zu entkommen. Am Ende erfasste ihn doch die Panik. Er versuchte, sich zu wehren, seine gefrorenen Glieder zu bewegen, aber es war sinnlos. Gleich war es vorbei.
Als Letztes sah er ein Gesicht. Ein kahler, alter Mann. Derselbe, der zu ihm sprach, als er sich im Glasbehälter befunden hatte. Seine Existenz sei ein Scherz, hatte er gesagt. Jetzt sah er ihn herablassend an. Er hatte recht behalten. Er wischte diesen Gedanken beiseite und dachte stattdessen an seine Eltern und seinen Bruder.
Knisternd und knackend wurde sein Sichtfeld weiß.
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Hypothermie
Fiksi Ilmiah[𝗪𝗮𝘁𝘁𝘆𝘀 𝟮𝟬𝟮𝟮 𝗚𝗲𝘄𝗶𝗻𝗻𝗲𝗿 (Größter Twist)] Ein unerwarteter Schneesturm verwandelt Daniels Stadt in eine Hölle aus Eis. Monster, die durch die Straßen ziehen. Ein fremdartiger Zylinder, der in der Stadtmitte eingeschlagen ist. Verdräng...