Schock 6.5

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Wir betraten die Halle, in der sich Ruiz Siedlung befand, und sahen uns einer Mauer aus Schrott und angespitzten Baumstämmen gegenüber. Ich warf einen Blick zurück zum Eingangstor, das in die Halle führte. Zumindest zu der Stelle, an der sich ein Tor befinden sollte. Nur noch Metallstäbe und scharfkantige Schrottstücke erinnerten daran, dass es sich dort irgendwann einmal befunden haben musste. Statt zu versuchen, die Tür und seinen Schließmechanismus zu reparieren, hatten sie sich auf eine andere Art Schutz verschafft.

Doch das war nicht das einzige Besondere in dieser Halle. Die Ränder, noch außerhalb des Schutzwalls, waren von Bäumen gesäumt. Ein Mischwald aus Laubbäumen und Nadelholz, auf das durch eine riesige Glaskuppel an der Decke das Sonnenlicht fiel.

"Echtes Sonnenlicht?", murmelte ich und staunte.

Es plätscherte plötzlich und ein Sprühnebel ging auf uns herab.

"Bäh!", beschwerte sich Sergej.

"Ihr habt wohl schon lange kein Wasser mehr gesehen, was?" Cass lachte. "Damit bewässern sie ihren Wald und die Wiesen."

Ja, vom Grau der Gänge war hier nichts mehr zu sehen. Vor uns wand sich zwischen grünen Wiesen ein brauner Trampelpfad bis hin zum Tor.

Cass rümpfte die Nase, als uns der Geruch von frischer Landluft entgegenwehte, und verkniff sich alle weiteren Kommentare. Stattdessen sah sie verträumt dem Tor entgegen, wahrscheinlich in der Hoffnung, bald Moritz kennenlernen zu dürfen.

Hinter der Brüstung der Barrikaden entdeckte ich zwei Wachen, die Patrouille liefen. Eine zeigte auf uns und eilte davon.

Ich war überrascht über diesen sozialen Mikrokosmos, den der Ring darstellte. Es gab Siedlungen, Labore, Bandenverstecke, einsame Killer und Hightech-Einsiedlerinnen. Und das alles, ohne dass die Bevölkerung in der Zitadelle davon wusste oder es wenigstens für sich behielt. Ich fragte mich, ob es Personen in gewissen Kreisen gab, die Zugriff auf die Überwachungssysteme des Rings hatten und genau studierten, wie sich die Lage hier entwickelte.

Als wir das Tor erreichten, erwartete uns bereits eine ganze Abteilung bunt zusammengewürfelter Milizionäre auf den Zinnen. Ihre Bewaffnung sah recht abenteuerlich aus. Selbst gebastelte Musketen, Bögen, simple, aber dennoch tödliche Nahkampfwaffen und selbst der eine oder andere zeitgemäße Tötungsapparat.

"Bis dahin und keinen Schritt weiter!", donnerte uns ein weißhaariger alter Mann mit Schnauzer in autoritärem Ton an. "Wer seid ihr und was wollt ihr hier?"

Wir stoppten, denn viel weiter konnten wir ohnehin nicht mehr gehen, wenn wir nicht von Pfählen oder Metallschrott aufgespießt werden wollten.

"Yo, wenn du willst, kann ich Brutus das ganze Tor und die Wichtigtuer einfach wegbrutzeln lassen", flüsterte mir Cass zu.

Ich ignorierte ihren Vorschlag. "Wir suchen Freunde von uns. Einen Jungen, ein Mädchen und einen alten Mann."

"Keine Ahnung, wen ihr meint. Hier gibt es viele, auf die so eine vage Beschreibung zutrifft." Die Milizionäre lachten.

"Moritz, Klara und Numbaka sind ihre Namen." Ich konnte schlecht sagen, wie groß diese Siedlung tatsächlich war, aber die Barrikaden schienen ein riesiges Gebiet einzusäumen. "Sie sollten erst vor Kurzem bei euch angekommen sein."

"Die Namen hab ich noch nie gehört", antwortete der Alte wirsch und voller Überzeugung.

"Mann, diese Bauern!", schimpfte Cass, aber nicht laut genug, dass sie es auch hörten. "Ich kann das Tor wirklich einreißen. Soll ich?"

"Tut mir leid, Mädchen, ich habe dich nicht verstanden, sprich doch etwas lauter", tadelte sie der Greis.

Das nahm Cass als Stichwort. Zum Glück nicht, um die Siedlung niederzubrennen, sondern nur um das Wort zu ergreifen. "Hey Alter. Mach mal halblang und hol Ruiz her. Sag ihm, Cass ist da, weil sie über seinen Vorschlag nachgedacht hat."

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt