Schock 6.1

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Der nächste Tag kam, ohne dass ich ein Auge zumachen konnte. Es zeigte sich, dass meine Unruhe berechtigt war.

Meine beiden Wächter, die ich schon gestern so richtig ins Herz geschlossen hatte, führten mich durch Gänge und Aufzüge, wieder zum Platz der Ratsherrschaft, der fast genauso gut gefüllt war, wie bei Thulius Rede. Mir wurde flau im Magen.

Auf den großen Medienpanels lief ein Bericht über Thulius Tod. Die Szene, die sich vor dem Tor in die Außenwelt abgespielt hatte, kommentiert von einer Nachrichtensprecherin. Ich hatte keine Zeit, dem Bericht zu folgen, denn meine Eskorte schob mich ungeduldig durch die Menschenmenge.

Kurz bevor wir die Türen des Gebäudes erreichten, auf deren Front eine große Waage prangte, zeigte ein Mann auf mich. "Das ist doch einer von ihnen, oder?" Er erntete Zustimmung. "Die haben Thulius auf dem Gewissen", kam es aus einer anderen Richtung. Mir wurde heiß. Wurde ich gleich vom Mob gelyncht, für etwas, das ich gar nicht getan hatte? Bevor es dazu kommen konnte, stemmte der eine Sik die Tür auf und der andere bugsierte mich hinein. Die Rufe der Meute wurden von den Türen, die schwer hinter mir ins Schloss fielen, erstickt.

Der Verhandlungssaal war prall gefüllt. Die Zuschauer hier drinnen begegneten mir wenigstens nur mit misstrauischen Blicken und die drei Richter hinter ihren massiven Holzemporen strahlten Gleichgültigkeit aus. Ja, die verdammten Medien hatten uns bereits in das richtige Licht gerückt und diese freundliche Stimmung geschaffen.

Die anderen saßen in der ersten Reihe, jeder mit Handfesseln gesichert. Sergej trug eine spezielle Variante, die seine Prothese umschloss, die immer wieder zuckte. Ein Störsender oder so was, vielleicht? Klara war zu einem Häufchen Elend zusammengesunken und Numbaka schien um Jahre gealtert. Kaum zu glauben, dass das überhaupt noch möglich war.

Captain Lover und die Siks, die am Einsatz beteiligt waren, saßen auf der anderen Seite der beiden Sitzblöcke. Anders als wir, waren sie nicht gefesselt.

Als ich Platz genommen hatte, drückte sich ein älterer Herr in grauem Anzug neben mich. Augenringe und müdes Lächeln. "Hallo, ich bin Ihr Verteidiger", sagte er außer Atem.

Der sollte uns verteidigen? Ich hatte ihn noch nie gesehen. Die anderen vielleicht? Auch mit ihnen hatte ich nicht reden können, so lange ich eingesperrt war und nun begann schon die Verhandlung? Ganz ohne Vorbereitung? Mein Körper wusste nicht, ob ihm heiß oder kalt werden sollte.

Sie begannen mit einem Nachruf auf Ratsmitglied Thulius, der sich allein heldenhaft für die Rettung der Zitadelle geopfert hatte. Das sollte wohl die Bühne bereiten, um unsere Rolle in der ganzen Geschichte noch dramatischer darstellen zu können. Der Redner, ein Mittvierziger mit lichtem Haar und dicker Brille, trug als Nächstes eine relativ objektive Auflistung der über uns bekannten Fakten vor. Mitschnitte unserer Verhöre dienten dazu, uns vorzustellen. Nur aus Sergej hatten sie nichts herausbekommen, wie sein Video zeigte. Er hatte den Sik, der ihn abführen wollte, übel zugerichtet. Danach hatte sich das scheinbar niemand mehr getraut.

Wir waren dank der Unachtsamkeit eines Mitarbeiters der Hypothermieabteilung der Einsetzung des ID-Chips entgangen. Ein unbekanntes Mitglied der Reformer hatte uns in U102 ausgesetzt, da Kontakte zwischen einem weiteren Mitglied der Reformer, Annadora und dem Besitzer des Etablissements 'Hort' und Mitangeklagten, Numbaka Godwin, bestanden. Dieser hatte uns für den Kampf gegen das Rechtssystem der Zitadelle ausgebildet und für verdeckte Operationen, für die wir, dank fehlender Chips, bestens geeignet waren.

Es folgte eine Schilderung der Straftaten, mit denen wir - dank Kameraaufnahmen und biometrischer Vergleiche - in Verbindung gebracht werden konnten. Klara sank dabei immer weiter in sich zusammen und Sergej starrte regungslos den Redner an. In Gedanken nahm er ihn vielleicht auseinander. Moritz' Reaktion konnte ich nicht erkennen, weil er neben Sergej verschwand. Mir wurde bei jedem Punkt mulmiger.

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