Schock 6.2

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Dieses wunderbare Gefühl in der Magengrube, das ich beim Start in der Achterbahn immer so geliebt hatte, ließ mich diesmal aufschrecken und ich riss die Augen auf. Ich wurde beschleunigt!

Ich lag auf dem Rücken und Dunkelheit umgab mich.

Ich streckte den Arm nach oben aus und meine Finger berührten etwas Kaltes. Ich ließ sie daran entlang wandern. Das Material ließ sich leicht eindrücken, leistete aber mehr Widerstand, als ich fester zudrückte. Ich lag auf dem Rücken und zumindest oberhalb von mir umgab mich das Material komplett und bildete eine Art Kuppel. Unter mir befand sich ein glattes und hartes Material. Eine Bahre aus Kunststoff vielleicht?

Ich lag doch nicht etwa in einem Sarg in der Leichenhalle und wurde gleich dem Kreislauf der Zitadelle zugeführt?

"Ich lebe noch, verdammt!", schrie ich und hämmerte gegen den Kunststoff.

Dann kam langsam die Erinnerung an die letzten Worte des Richters zurück. Sie mussten mich gerade auf die Reise in den Äußersten Ring geschickt haben.

Die Luft um mich herum kühlte ab und ich versuchte, mich an das zu erinnern, was ich über das Gefängnis der Zitadelle wusste. Es gab einen Korridor zwischen ihm und dem Hauptkörper der Zitadelle, der nicht klimatisiert war.

Die warme Luft der Zitadelle, die sich jetzt noch in meinem Sarg befand, würde sich nach und nach an die eisigen Außentemperaturen anpassen. Falls ich nicht an meinem Ziel ankam, würde ich also früher oder später erfrieren. Denen, die mich auf den Weg geschickt hatten, war das egal und ich bezweifelte, dass die Medien das weiter verfolgen würden, falls so ein Unfall passierte. Die Gerichtsverhandlung war beendet, unser Schicksal stand fest, die Show war vorbei.

Der Ring war ein selbstversorgender Komplex, hieß es. Enthielt ein Synthsystem und angeblich auch Flächen für herkömmliche landwirtschaftliche Methoden der Nahrungsmittelgewinnung, wie die Zitadelle selbst. Ohne einen Stab an Technikern, eine Verwaltung oder Menschen, die sich in diese Arbeit investierten, konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Möglichkeiten wirklich genutzt wurden. Falls dort überhaupt jemand lebte. Den Hinweis der Majorin, dass es unter dem Radar der Öffentlichkeit immer wieder Inhaftierungen gab, hatte ich nicht vergessen. Doch wie lang überlebte ein Haufen Psychopathen in Gesellschaft anderer? Gingen sie sich gegenseitig an die Gurgel, bildete sich eine Hierarchie oder verschiedenen Gruppierungen? Wenn es niemanden gab, der wenigstens ab und zu hinsah und für Ordnung sorgte, was passierte dann?

Ich merkte, wie mein Vehikel über ein Hindernis schlitterte und den Kontakt zum Boden verlor. Eine Rampe? Der Aufprall, der folgte, presste mir die Luft aus den Lungen und ich stöhnte. Dann rutschte mein Sarg noch ein Stück, quietschend und knarzend, und kam schließlich zum Stehen.

War ich angekommen? Wenn ja, wie kam ich hier raus? Ich drückte wieder gegen die Decke dieser Todesfalle, die immer noch nicht nachgeben wollte. Dann trat ich zu. Das war wirklich gedankenlos, denn ich hatte keine Schuhe an. Wieso hatte ich keine Schuhe an? So schlecht konnte es doch nicht um die Zitadelle stehen, dass sie mir die wegnehmen mussten, oder? Zu meinem Glück war das Deckenmaterial elastisch genug, so brach ich mir keinen meiner Zehen.

Von außerhalb hörte ich einen zweiten Aufprall und ein Schlittern, ich war also nicht alleine angekommen.

Ich tastete die Stellen ab, an denen das elastische Material in den harten Boden überging, vielleicht gab es dort einen Mechanismus, um dieses verdammte Ding zu öffnen. Ich fand nichts dergleichen.

Als Nächstes prüfte ich, was ich an mir trug. Ich brauchte irgendwas, womit ich die Decke aufschlitzen konnte. Ich musste hier einfach raus, der Sauerstoff würde ja nicht ewig halten. Ich glaubte, bereits zu spüren, wie sich der Sauerstoffmangel bemerkbar machte. Meine Atemzüge wurden flacher und Schweißtröpfchen bildete sich auf meinen Fingerspitzen, als ich meine erfolglose Suche beendete.

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt