Beben 5.2

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Wie sollten wir an ihn herankommen, wenn ihn so ein großes Gefolge begleitete? Jeder seiner Begleiter erhöhte die Chance, dass wir als Eindringlinge erkannt und sofort rausgeworfen wurden. Klar, Sergej konnte sie alle verhauen, damit wir uns anschließend ihren Boss zur Brust nehmen konnten, aber das war wohl kaum, was wir wollten. Ich blickte Moritz an, der bleich geworden war und genauso ratlos aussah, wie ich mich fühlte.

Vielleicht erkannte das Ratsmitglied in ihm ja wirklich seinen Bruder, doch sein Blick, den er zufrieden über die versammelte Menge gleiten ließ, blieb nicht an ihm hängen. Nun, ich hätte sicher auch keinem der vielen Leute direkt ins Gesicht geschaut, die inzwischen den Platz bis in die hintersten Winkel gefüllt hatten und sich rege über seinen Vorredner unterhielten.

Dafür konnte ich die Anonymität in der Menge nutzen, um ihn genauer zu mustern. Thulius' kurzes Haar war weiß, aber immer noch voll und er bewegte sich bedächtig. Das konnte aber auch nur ein Tick sein, den er der Ehrwürdigkeit seines Amtes wegen angenommen hatte. Das Gesicht war glatt, bis auf wenige, feine Falten, die ich von hier aus sehen konnte.

Ich hatte mir, als ich das erste Mal vom Rat erfuhr, vorgestellt, dass es alte Männer in Tuniken waren, die in einem von Säulen umgebenen Forum über das Wohl der Zitadelle diskutierten. Wenn man die Säulengänge an den Rändern des Platzes betrachtete und sein Alter berücksichtigte, stimmte das zumindest teilweise.

Er trug allerdings keine Tunika, sondern einen einfachen Synthetikanzug. Schwarze Hose und graues Oberteil mit einem verwobenen Goldmuster an den Säumen. Auf der linken Brust ein Symbol der Zitadelle, das jedem zeigte, dass er einer der drei Obersten Räte war. Die Ärmel weiteten sich zum Ende hin. Falls ihm kalt wurde, konnte er seine Hände darin verschwinden lassen. Nicht, dass es hier einen Grund dazu gab. Die warmen Sonnenstrahlen, die auf meiner Haut tanzten, trotzten der Tatsache, dass wir außerhalb der Mauern von einer Eiswüste umgeben waren.

Ich wandte den Blick von ihm ab und beobachtete den Bereich, der zwischen uns lag. Thulius war nur fünf Meter von uns entfernt. Wir konnten also mit Leichtigkeit die Absperrung durchbrechen und ihn erreichen, wenn wir es wirklich wollten. Und dann?

Ich kam nicht dazu, diesen Plan weiter zu verfolgen, denn jetzt trat er selbst in Aktion. Er erhob seine Hände vom Rednerpult, vielleicht nur einen halben Zentimeter, und die Gespräche ebbten ab. Irgendwo hinter uns hörte ich noch das Geräusch einer hellen Kinderstimme, die aber einen Augenblick später ebenfalls verstummte.

"Meine lieben Bürgerinnen und Bürger, ich möchte Ihnen noch einmal persönlich für Ihr so zahlreiches Erscheinen danken. Das zeugt von Vertrauen, das uns als Rat durch all die Jahre getragen hat. All die Jahre, die wir unsere Zitadelle nun Heimat nennen dürfen." Seine Stimme war fest, strahlte Erhabenheit und gleichzeitig Bedächtigkeit aus. "Danke für das Vertrauen, das Sie auch mir selbst in den vierzig Jahren meiner Dienste im Rat entgegengebracht haben."

Er fuhr damit fort, Lobgesänge auf die Fortschritte in der Gesellschaft zu halten, die der Rat ermöglicht hatte. Natürlich vergaß er, zu erwähnen, dass die sich fast ausschließlich auf das Leben der Oberweltler auswirkten. Seine Wortwahl war so schwülstig, dass mir beinahe schlecht wurde.

An den richtigen Stellen hielt er einen Moment inne, damit die versammelte Menge jubeln und applaudieren konnte. Er war so eine Art Star und Symbol für die Sicherheit, die die Menschen hier genossen. Selbst wenn es einen Angriff der Reformer auf das Machtgefüge des alten Rates gegeben hatte, bezweifelte ich, dass auch nur einer der hier versammelten Menschen Thulius gegen einen der Neubewerber austauschen wollte. Die wirkten ihm gegenüber alle blass und unscheinbar.

Nach all den Lobgesängen kam er endlich auf den Punkt mit Reformern zu sprechen.

"Wie Sie in den Medien verfolgen konnten, gibt es eine kleine Gruppe in unserer Bevölkerung, die den Rat vernichten und die Mauern einreißen möchte, die uns vor der Außenwelt schützen. Sie sind blind und haben nicht gesehen, was wir damals gesehen haben. Andere haben es vergessen und einige wollen die Zitadelle einfach nur ins Chaos stürzen."

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt