Eis 1.7

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Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und stützte mich mit Handflächen und Nasenspitze am Fenster des Empfangsraums ab, um sicherzugehen, dass der Pförtner nicht tot unter seinem Schreibtisch lag.

Ich entdeckte nichts, auch kein Blut. Dann war zumindest hier noch keine Katastrophe passiert. Wenigstens keine, an der Killerwölfe beteiligt waren.

"Okay, scheinbar ist keiner da." Ich seufzte. "Dann schlagen wir diese Scheibe eben auch noch ein. Führst du eine Strichliste?"

"Nein", sagte Sergej trocken und zertrümmerte die Scheibe.

Wir stiegen über den Rand der zerstörten Glastür und schlichen auf den Warteraum zu. Ich hatte wohl mit den Schneeschuhen ein paar Scherben mitgenommen, die jetzt verräterisch bei jedem Schritt knirschten und jeden warnten, der uns auflauerte.

Der Warteraum war ebenfalls leer.

"Komisch. Meinst du, sie haben das Krankenhaus doch schon evakuiert?", fragte Sergej.

"Nein, das hätte die Ärztin sicher gewusst. Wir gehen einfach rein. Wo liegt deine Mutter?"

"Hier lang."

Wir marschierten zu den Aufzügen und drückten vergeblich auf die Knöpfe. Kein Signal, dass einer kam. Nicht einmal die Positionsanzeigen leuchteten. War er außer Betrieb?

Sergej fluchte auf Russisch und war schon durch die Tür zum Treppenhaus, als ich noch über die Ursache des Ausfalls nachdachte.

Treppen? Ich stöhnte und fingerte am Verschluss des Brustgurts meines Rucksacks herum. Meine Arme brannten, als ich sie durch die Gurte zwängte. Dumpf schlug der Rucksack auf den Boden auf und erleichtert steckte ich meinen Kopf durch die Tür.

"Welche Etage?", rief ich Sergej hinterher. Ich griff mir Bogen und Messer. Eh wir uns versahen, fanden wir uns in einem Horrorstreifen wieder. Da war ich lieber vorbereitet.

"Vierte", keuchte er von weiter oben.

Ich folgte ihm und hörte oben bereits die Tür zuschlagen. Die Wände waren in Krankenhausgrün und Weiß gehalten und selbst das Treppenhaus verströmte den typisch sterilen Geruch eines Krankenhauses. Dank des Ziehens in meinen Oberschenkeln humpelte ich die ersten paar Stufen nach oben.

"Du bist so ein Weichei!", schimpfte ich über mich selbst, biss ich die Zähne zusammen und beeilte mich, ihm zu folgen.

Der Flur der vierten Etage war still. Sergej musste schon weiter voraus sein. Ich spähte in beide Richtungen des Gangs. Vielleicht stand irgendwo eine Tür offen. Damit hatte ich kein Glück, stattdessen entdeckte ich weit hinten das Stationszimmer.

Der Gang war nur schwach beleuchtet. Sparmaßnahmen? Vorsichtig, mit einem Pfeil an der Sehne, humpelte ich auf mein Ziel zu. Nach ein paar Metern hielt ich inne und lauschte. Es herrschte Totenstille und ich setzte meinen Weg fort.

Hinter dem Tresen entdeckte ich tatsächlich einen lebenden Menschen. Eine Krankenschwester, die lautlos mit ihrem Handy beschäftigt war. So beschäftigt, dass sie mich nicht bemerkte.

"Tschuldigung, ist hier grade jemand in einem Schneeanzug vorbeigekommen?" Ich wusste leider nicht mehr, wie Sergejs Nachname war, und etwas Besseres fiel mir nicht ein.

Sie zuckte leicht zusammen, ließ ihr Handy verschwinden und blickte auf. "Zimmer 426. Oh ..." Sie starrte mich an. "... wird das ein Überfall?"

Ich musste in meinem Schneeanzug, bewaffnet mit Messer und Bogen, wirklich bedrohlich aussehen. Gut so!

"Nein, lange Geschichte. Draußen ist die Hölle los. Danke für die Info."

"Kein Problem. Ich hoffe, das Wetter wird besser. Meine Schicht ist eigentlich schon vorbei. Natürlich ist niemand ..."

HypothermieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt