Ich sah mir die erste Schublade an, die in fetten Lettern die Beschriftung 983G trug. Ich ließ die Finger darüber gleiten. Kalt und rau standen sie hervor. Die ganze Schubladenfront musste per Synth hergestellt worden sein. Darunter und etwas kleiner waren Name, Geschlecht und Beschäftigung aufgetragen. Daneben das Datum des Todes und ein Flammensymbol. Monica DeVries, weiblich, Textildesignerin. Natürlich synthetische Textilien. Und sie war für die Verbrennung vorgesehen. Das würde wohl zu Problemen führen, wenn ich in eine Kontrolle kam, selbst wenn sie nur oberflächlich durchgeführt wurde.
Ich hatte mich mit einem stark betrunkenen Med an einem Abend im Hort über das Thema unterhalten. Rein theoretisch natürlich. Konnte man einen ID-Chip wieder entfernen?
Er war der Überzeugung, dass das Entfernen bei einem lebenden Menschen entweder zu seinem Tod führen oder wenigstens ernsthafte Schäden am Gehirn hinterlassen würde. Es sei denn, man besaß spezialisiertes Equipment. Wie in einem Hypothermie-Labor, in dem die Menschen aufgetaut wurden. Die Leute setzten schließlich die Chips ein, die bekamen sie auch wieder gefahrlos raus.
Wie wir nun ohne Chips durch die Gegend liefen, ließ sich so zwar auch nicht klären, aber der Med erklärte ziemlich plastisch, wo der Chip saß. Er benutzte dazu Sergejs Hinterkopf, der den Med am liebsten im hohen Bogen aus dem Hort geworfen hätte. Für unsere Sache nahm ich einen verärgerten Sergej aber in Kauf.
Ohne diese Information wäre ich auch irgendwie mit dem Sensor meines Multifunktionslasers fündig geworden. Ich hätte aber länger gebraucht und Zeit war kostbar. Nicht zu vergessen das schreckliche Piepen, wenn er Metall erkannte. Das hätte mich garantiert wahnsinnig gemacht.
Nachdem Monica DeVries nicht infrage kam, ging ich weiter, zur nächsten Schublade. 983H, Josh Hardington. Finanzanalytiker. Dass es so etwas in der Zitadelle noch gab? Hörte sich langweilig genug an und ich nahm, was ich bekommen konnte. Auch er war, dem Beruf nach, einer der normalen Bürger, aber auf unbestimmte Zeit eingefroren. Geld regierte wohl immer noch die Welt.
Es war wichtig, dass es ein langweiliger, eher unbedeutender Bürger war. Bei ihnen wurden nach seinem Tod keine Vorkehrungen getroffen, ihre Befugnisse aus dem System zu löschen, da die Chips entweder mit den Körpern vernichtet wurden oder sein Besitzer eingefroren war und nicht mehr herumlaufen konnte. Ich hatte geglaubt, dass es in einer Zeit der kompletten Vernetzung nur einen Gedanken bräuchte, um alles zu löschen, was mit ihm im Zusammenhang stand, aber die Bürokratie hatte sich, genauso wie die Technologie, auf eine neue Ebene begeben. Dass ich mich irgendwann mal über Bürokratie freuen würde, das hätte ich in meinem alten Leben wohl nie geglaubt.
Ich zog die Schublade auf und die Luft kühlte so stark ab, dass mir die Nasenhaare einfroren. War es hier drin nicht schon kalt genug? Ich schnitt durch die Verschlüsse der Abdeckung und klappte sie auf. Schon bei dieser kurzen Berührung spürte ich, wie die Kälte durch meine Handschuhe kroch und meine Finger zu kribbeln begannen. Und dann lag er vor mir. Josh Hardington, mit zufriedenem Gesichtsausdruck. Fast so, als würde er nur schlafen. Doch ich setzte mein Vertrauen in die Schubladenfront. Die versicherte mir ja, dass er wirklich tot war.
Ich drehte ihn auf die Seite. Der Chip befand sich im Hinterkopf und irgendwie war ich froh, dass ich Josh bei meiner Arbeit nicht in die gefrorenen Augen blicken musste. Ich justierte den Laser auf die gewünschte Position und stellte den Strahl so ein, dass er feine Schnitte, durchführen würde, wie mit einem Skalpell. Dann schnitt ich einen Kreis mit einem halben Zentimeter Durchmesser in seinen Hinterkopf. Dieselbe Stelle, an der es bereits nach dem Auftauen der Personen durchgeführt wurde, aber danach für niemanden mehr sichtbar war. Ich fragte mich, wie sie das bei Kindern anstellten, die ja noch wuchsen, verwarf den Gedanken aber. Meine Arbeit hier war schon makaber genug. Ich war nur froh, dass Josh tiefgefroren war und so mehr einer Puppe als einem Menschen glich.

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Hypothermie
Ciencia Ficción[𝗪𝗮𝘁𝘁𝘆𝘀 𝟮𝟬𝟮𝟮 𝗚𝗲𝘄𝗶𝗻𝗻𝗲𝗿 (Größter Twist)] Ein unerwarteter Schneesturm verwandelt Daniels Stadt in eine Hölle aus Eis. Monster, die durch die Straßen ziehen. Ein fremdartiger Zylinder, der in der Stadtmitte eingeschlagen ist. Verdräng...